Die Intrigenhölle
Es war 1946 der erste breitenwirksame Roman einer afroamerikanischen Autorin: Ann Petrys „The Street“. Mit expressivem Realismus schildert die Autorin darin den Überlebenskampf ihrer Heldin Lutie Johnson im Harlem der vierziger Jahre. Draußen tobt der Weltkrieg, die alleinerziehende Lutie aber bekommt es mit Armut, Rassismus und sexueller Belästigung zu tun, etwa wenn sie von ihrem frustrierten Hauswart bedrängt wird. Der Roman erzielte eine Millionenauflage und war eine Sensation auch deshalb, weil er der vom gewonnenen Weltkrieg euphorisierten Nation die Probleme im Inneren aufzeigte.
Hierzulande ist der vor einem Jahr in deutscher Neuübersetzung erschienene Klassiker ebenso eine Entdeckung wie der Roman, den Ann Petry ein Jahr nach „The Street“ veröffentlichte und der nun überhaupt erstmals in der Übersetzung von Pieke Biermann auf Deutsch zu lesen ist. Schon im Titel „Country Place“ zeigt sich ein radikaler thematischer Wechsel.
Der Blick wendet sich jener provinziellen Mittelschicht zu, die heute gern etwas abschätzig als „WASP“ bezeichnet wird: White Anglo-Saxon Protestants. Von Harlem führt der Weg ins fiktive neuenglische Kaff Lennox, dessen Vorbild Old Saybrook ist, jenes Städtchen, in dem Ann Petry 1908 als Tochter der einzigen schwarzen Familie am Ort (ihr Vater war Apotheker) geboren wurde und wohin sie mit ihrem Mann und ihren Kindern nach einem Jahrzehnt in New York wieder zurückkehrte.
Lennox ist eine Idylle. Sieht man sich die Menschen dort allerdings genauer an, ist es ein Panoptikum des Leidens. Missgunst und Gehässigkeit, bohrende Sehnsüchte und unerfüllte Bedürfnisse setzen den Bewohnern zu; überall lauernde Blicke, Tratsch und Vorurteile. Dazu fiese Charaktere, denen einfach nicht zu entkommen ist, wie der einzige Taxifahrer des Ortes, Spitzname: „das Wiesel“. Er ist das Überwachungssystem von Lennox; keine Heimlichkeit entgeht ihm.
Dann ist da noch der alternde Kleinstadtcasanova Ed Barrell, der den Generalschlüssel zu den Herzen und Unterleibern aller vernachlässigten Ehefrauen hat. Wenn eine junge Frau seinem klebrigen Charme verfällt, sollte sie wissen, dass der Lebemann von Lennox zu anderer Zeit womöglich schon mit ihrer Mutter zugange war.
So ist es jedenfalls bei Glory, einer der weiblichen Hauptfiguren. Ihre Geschichte ist ein Emanzipationsversuch, der nicht schön aussieht. Ihr Ehemann Johnnie Roane hat als Army-Mechaniker auf vielen Schauplätzen des Zweiten Weltkriegs Motoren flottgemacht. Unterdessen hat Glory sich daheim als Verkäuferin ein Stück finanzielle Selbstständigkeit erarbeitet. Und gedenkt nun, diese Selbstständigkeit auch aufs erotische Gebiet auszuweiten, mit Ed, versteht sich.
Sie giert nach den Komplimenten des Schürzenjägers, der einst eine Affäre mit ihrer Mutter hatte. Da kommt zur Unzeit Johnnie aus dem Krieg zurück. Seine aufgestaute Sehnsucht wird von Glory nicht erwidert. Schon in der ersten Nacht kommt es zum Streit, Johnnie ist wütend und gekränkt. Das hält Glory nicht davon ab, die nächste Gelegenheit für ein Rendezvous mit Ed zu nutzen.
[Ann Petry: Country Place. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Pieke Biermann. Nagel & Kimche, Zürich 2021. 304 Seiten, 24 €.]
So nimmt das Verhängnis seinen Lauf, und so trägt jeder in Lennox seinen persönlichen Schicksalsroman in sich, den er lieber nicht publiziert sehen möchte. Glorys Mutter Lil zum Beispiel hat noch einmal berechnend geheiratet, den Sohn der reichen Miss Gramby. Nun lebt sie seit Jahren mit dem ungeliebten Mann in der Gramby-Villa, die ihr jeden Tag enger vorkommt, weil die alte Matriarchin nicht daran denkt, zu sterben und ihr Erbe freizugeben. Miss Gramby leidet an Diabetes. Lil fasst den Plan, sie mittels unwiderstehlicher Naschereien in ein tödliches Insulinkoma zu schicken.
Die dunklen Mächte unserer Zeit
Kleinstädte kommen in der Literatur oft nicht gut weg. Dank ihrer engen sozialen Verflechtung bieten sie Schriftstellern das ideale Setting, um Bosheit und Intrigen wuchern zu lassen. So weit bleibt „Country Place“ im Rahmen des Erwartbaren. Allerdings hat die Lektüre dank Petrys erzählerischer Klasse und ihrer Gabe der eindringlichen psychologischen Menschenschilderung großen Reiz. Der melodramatische Drive der Handlung bekommt zusätzliche Windstärken durch einen eindrucksvoll beschriebenen Sturm, der Lennox parallel zur Klimax des Geschehens heimsucht.
Das Nachwort von Farah Jasmine Griffin, Literaturprofessorin an der New Yorker Columbia University, nimmt den Roman gegen seine Unterschätzung in Schutz, entwickelt dabei aber einen Sound, der an die ideologisch korrekt getrimmten Nachworte in alten DDR-Ausgaben erinnert.
Damals wurden das Elend des Kapitalismus, die Verfehlungen der bürgerlichen Klasse und der unaufhaltsame Aufstieg des Proletariats ins Feld geführt. Nun werden ähnlich stereotyp und lehrbuchmäßig die dunklen Mächte unserer Zeit beschworen: „Petry macht die Instabilität einer weißen racial identity anschaulich, indem sie zeigt, dass sie keineswegs monolithisch ist und dass sie auf dem moralisch bankrotten Fundament ethnischer und rassistischer Vorurteile (sowie auf Sexismus und Misogynie) errichtet ist.“
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Widerlegen will Griffin damit die alte, freilich ebenfalls problematische Kategorisierung von Romanen wie „Country Place“ als „raceless novels“. Viele afroamerikanische Autoren, darunter James Baldwin und Richard Wright, schrieben um 1950 Romane, deren Protagonisten weiß sind. Dass diese Bücher deshalb nicht „raceless“ sind, leuchtet ein. Petry hat einen scharfen Blick darauf, wie die Menschen in der Kleinstadt ihren Selbstwert durch die Ablehnung des „Fremden“ zu festigen versuchen.
Petry ist erhaben über Schwarz-Weiß-Kitsch
Der jüdische Anwalt wird mit antisemitischen Schmähungen bedacht, wobei sich das „Wiesel“ hervortut. Ansonsten sind „Fremde“ für niedere Dienste zuständig. Miss Gramby beschäftigt einen portugiesischen Gärtner, eine schwarze Hausangestellte und einen Koch aus Osteuropa. Dass die alte Dame am Ende diesem marginalisierten Trio in ihrem Testament Gramby House vermacht, mag man als Wink in eine ferne multikulturelle Zukunft verstehen.
Griffin sieht im Nachwort darüber hinaus als „einzige Hoffnung“ die „Prinzipien menschlichen Anstands und menschlicher Treue“ in ihnen verkörpert. Daran darf man zweifeln, wenn der Koch in der Schlussszene mit seinem „Wurstfinger“ auf die enttäuschte Lil zeigt und „mit zischelnder Stimme“ religiöse Drohungen ausstößt.
Ann Petrys Erzählkunst ist erhaben über einen Schwarz-Weiß-Kitsch, der Gut und Böse mittels „racial identities“ – sei es der Figuren, sei es der Autoren – unterscheiden möchte. Die Intrigenhölle dieser Kleinstadt hätte ganz ähnlich von einem weißen Autor wie John Updike beschrieben werden können. Johnnie Roane entkommt ihr am Ende, indem er nach New York geht, um sich dort als Künstler zu versuchen. Spätere Rückkehr nicht ausgeschlossen.