So entstand ein Sumpf in der Halle am Berghain

Es klingt wie ein Vogelruf und sprudelt wie ein Bach: „Berl“. Und gleich nochmal: „Berl“. Die Slawen hatten viele Begriffe für die feuchten Wiesen, auf denen sie sich vor zehntausend Jahren ansiedelten. Aber nur aus „Berl“ wurde Berlin. Wenn die englischsprachigen Kuratoren, die Jakob Kudsk Steensens Ausstellung ankündigen, diese beiden Silben im Mund rollen, klingt es wie das Idiom einer neuen Welt. „Berl-Berl trauert um das, was verloren ist und heißt willkommen, was neu ist“, sagt Jakob Kudsk Steensen. Besser kann man nicht auf den Punkt bringen, wie sich seine gleichnamige Ausstellung in der Halle im Berghain anfühlt.

Steensen, im dänischen Køge geboren, hat für die Kunstreihe der megaerfolgreichen K-Pop-Band BTS ein digitales Naturvideo geschaffen. Seine Arbeiten wurden auf den Billboards am Times Square gezeigt; die Londoner Serpentine Galleries lud ihn als Ersten zu ihrer Zukunftsreihe „Augmented Architecture“ mit Architekt David Adjaye ein. Steensen fühlt sich einer Community aus Künstlern und Literatinnen zugehörig, die sich für Ökofiktion begeistern.

In den komplexen Gaminglandschaften, die der 1987 Geborene programmiert, steckt viel Recherche. Für die Sumpflandschaft in der Halle am Berghain hat Steensen zwei Jahre lang in Berlin und Umgebung die noch bestehenden Moore und Feuchtgebiete analysiert. Sich angehört, was Naturwissenschaftler und Sprachforscherinnen über diese Ökosysteme wissen.

Berlin ist wie viele andere Metropolen in einer Sumpflandschaft entstanden. Die slawischen Völker versprachen sich davon einen fruchtbaren Lebensraum. Hat ja geklappt. Nur dass im Laufe der Jahrtausende immer mehr Gebiete trockengelegt wurden, was das natürliche Gleichgewicht stört.

Steensen, der schon früh Videoanimationen programmierte, hat sich bereits in vorherigen Projekten mit kleinen, spezialisierten Ökosystemen und ausgestorbenen Tierarten beschäftigt. Neu ist, dass er sich beim Kreieren seiner virtuellen Umgebungen von alten Mythen und vergessenen Sprachen leiten lässt. So stieß er auf die etymologische Herleitung des Wortes Berlin. Berlin kommt vom slawischen Wort Berl, und Berl bedeutet Sumpf.

Malerische Computerlandschaften

In Steensens virtuellem Feuchtgebiet, das sich auf neun Screens in der zweistöckigen Industriehalle abspielt, kommt keine Szenen zweimal vor. Obwohl digital, ist die Landschaft wie ein lebendiger Organismus, sie wandelt sich ständig, reagiert auf Tageszeit, Lichteinfall und Sound. Der Künstler, der mit floralem Hemd in seiner neu eröffneten Ausstellung steht, erklärt das so: Würde man jeden Tag einen Spaziergang im Park unternehmen, sähe man zwar immer denselben Baum, aber niemals im exakt gleichen Zustand.

Immersiver Storyteller. Jakob Kudsk Steensen hat auch schon die Billboards vom Times Square bespielt.Foto: Hugo Glendinning

Das Licht würde ihn heller oder dunkler erscheinen lassen, er wäre feucht oder trocken, von Ameisen bevölkert oder nicht. Ebenso ist es in Steensens Computerlandschaft. Die 3D-Objekte formieren sich wie in einem Computerspiel in Echtzeit immer wieder neu. Und dabei changieren sie zwischen Hardcore-Dokumentation, Fiktion und Mythos. Denn mit all dem ist der Algorithmus gefüttert.

[Bis 26. September, Halle Am Berghain, Mo-Do 13-22 Uhr, Fr-So 11-23 Uhr. Info und Tickets: lightartspace.org]

Auf einem der großen Bildschirme ist eine Art Unterwasserwelt zu sehen, mit Baumwurzeln, Pilzen, Quallen und Muscheln sowie knackenden und brodelnden Sounds. Mal wandelt sich die Rinde auf den Baumwurzeln in Schlangenhaut, in einer anderen Sequenz wird alles grüner und waldiger, und die Pflanzen scheinen sich wie Wasserlinsen in einzelne Punkte aufzulösen. Ein sehr malerischer Eindruck, der zwar maschinengemacht ist, aber vom Künstler händisch mit glühenden Punkten verstärkt wird.

Die Natur zum Leben erwecken

Steensen Markenzeichen ist immersives Storytelling. Dafür taucht er zunächst selbst tief in die Realität ein. „Slow Media“ heißt es, wenn man die natürliche Welt mit digitaler Technologie hypergenau ins Auge nimmt. Steensen baut seine künstlichen Landschaften auf der Basis von Fotografien. Dafür kriecht der Künstler in Gummistiefeln und Outdoorjacke durch die Sümpfe des Berliner Umlandes.

Er fotografiert Farne und Flechten, Pilze, Flussläufe und Topografien aus hundert verschiedenen Blickwinkeln. Die Bilder werden später am Computer zu 3D-Objekten und -Landschaften zusammengesetzt. Für sein Berliner Projekt, das von der Kunstplattform LAS in Auftrag gegeben wurde, war Steensen in den Karower Teichen unterwegs, an der Panke, vor allem aber im Spreewald.

Die Wurzeln in der Installation „Berl-Berl“ von Jakob Kudsk Steensen spiegeln sich in einer Folie.Foto: Jakob Kudsk Steensen

Der Spreewald mit seinen Kanälen und Geistern, Feen und Geschichten von Himmel, Erde und Unterwelt hat es ihm angetan. Die Pflanzen und Lebewesen, die man in seinen Animationen sieht, sind Seerosenzüngler, Wasseramsel und Grasfrosch aber auch Hybride aus verschiedenen Arten von der Eiszeit bis heute.

Steensen collagiert seine eigene Fotografie mit Archivbildern aus dem Berliner Naturkundemuseum, die aktuelle Pflanzenwelt mit der von vor 60 oder 100 Jahren. So macht er es auch mit Sounds, zeitgenössischer Gesang trifft auf historisches Froschgequake. So kann er ausgestorbene Arten mit digitalen Mitteln wieder zum Leben erwecken. Dieser Trend heißt „De-extinction“ und wird jenseits der Kunst mittels Genmanipulation versucht.

Ein Tunnel zwischen der natürlichen und der digitalen Welt

Wenn man sich ansieht, was Steensen sonst so kreiert, Landschaften, die man mit 3D-Brille ansieht, Augmented Reality-Werke, die via Smartphone an beliebigen Orten aufscheinen, dann ist der Grad der Immersion hier sogar recht reduziert. Niemand wird denken, er oder sie sei im Sumpf, die Architektur der Industriehalle bleibt dominant. Der Däne, der mittlerweile von New York nach Berlin gezogen ist, zollt der Partylocation Respekt. Man wandert und kreist also zwischen den teils weit auseinanderstehenden Screens umher.

Steensen sieht seine Arbeit wie einen Tunnel, der eine Verbindung schafft zwischen der natürlichen und digitalen Welt. Flora und Fauna, die wir sonst nicht mehr wahrnehmen können, weil sie ausgestorben ist oder aus dem urbanen Lebensraum verdrängt wurde, können wir in der digitalen Welt sehen und hören – in einer optimierten Zukunftsvariante.