Kino des Wesentlichen: Als Ödipus noch sehen konnte
Wolken, die sich über den Berg wälzen und ihn den Blicken entziehen. Ein Donnerschlag, eine Weggabelung. Ein Baby in einer Steinhütte neben den Ziegen. Der Arzt, der das Baby im Krankenwagen mitnimmt. Wunde, blutige Füße. Kleine Krebse an der Meeresbucht. Die Echse am Knöchel der jungen Frau, die in den Tod springt. Die hohen Holzpantinen der Gefängnisinsassen. Das Tischtennis-Quartett der Gefängniswärterinnnen, ein Kuss, ein Autounfall am Potsdamer Platz.
Das Leben besteht aus Augenblicken, sie gehen aus Zufällen, Entscheidungen und Schicksalsschlägen hervor. Oft aus dem, was sich dem Verstehen entzieht, oder was sich aus Versehen ereignet. Angela Schanelec widmet ihre Filme diesen Momenten, elliptisch, enigmatisch, behutsam. Auch „Music“ ist ein solcher fragmentarischer Reigen, lose der Ödipus-Sage mit dem Orakel von Delphi nachempfunden.
Wieder kündigt Schanelec den linearen Lauf der Zeit und die konventionelle Logik des Narrativen auf: Leben, sagt dieser Film, in dem kaum gesprochen wird, ist das, was sich dem erzählerischen Zugriff entzieht, was sich besser zeigen als sagen lässt. Umso seltsamer, dass die 61-Jährige auf der diesjährigen Berlinale ausgerechnet einen Silbernen Bären fürs Drehbuch gewann. Und ärgerlich, dass dem Verleih Grandfilm die Förderung für die Herausbringung von „Music“ verwehrt wurde, dabei ist sie fürs künstlerisch Wertvolle gedacht: Nach Filmen wie „Marseille“, „Der traumhafte Weg“ und zuletzt „Ich war zuhause, aber …“ ist dies das radikalste Bilderrätsel der Berliner Regisseurin. Und das schlüssigste, bestürzendste dazu.
Wer sich auf Schanelecs Kino des Wesentlichen einlässt, wird reich belohnt. Jede ihrer Einstellungen, ihrer so präzisen wie die Protagonisten und Landschaften liebevoll einhegenden Cadragen weckt die Lust darauf, nicht nur im Kino genauer hinzuschauen, sondern sich auch sonst mehr Zeit zum Staunen zu nehmen. Über die schroffe Erhabenheit des griechischen Karstgebirges, die Schönheit der feinen Profillinie eines Gesichts oder jener Barockmusik, die dem Film ihren Titel gibt.
Philippe Jaroussky singt ein Lamento von Vivaldi, später, nach dem Szenenwechsel von Griechenland in den Achtzigern ins heutige Berlin, singt Hauptdarsteller Aliocha Schneider Lieder des kanadischen Singer-Songwriters Doug Tielli. Die Wehmut nistet sich in jede Pore ein.
„Warum Augen haben, wenn nicht zum Sehen? Warum blieb ich nicht die ganze Nacht wach?“, heißt es in Tiellis „Look at Me“. Eine Schule des Hörens, des Sehens, und die Musik ist ein Trost.
„Music“ verstehen ist so wie Musik verstehen
Der Plot? Schwer zu sagen, bei einem Barockkonzert geht das ja auch nicht. „Music“ verstehen, das geht so, wie man Musik versteht, mit einer Unmittelbarkeit, die im Zeitalter der zwischen Wahrnehmung und Wahrheit geschalteten Medien rar geworden ist. Und mit leicht entzifferbaren Motiven, von Jons dauerwunden Füßen, die an die durchstochenen Füße von Ödipus gemahnen, über den Totschlag, den er beim Gebirgsausflug mit Kommilitonen begeht, und später den Selbstmord einer Mutter bis zu Jons allmählicher Erblindung in der Großstadt. Bei Sophokles blendet Ödipus sich selbst, als er erfährt, dass er den eigenen Vater erschlug.
Hineingewoben sind andere schuldhafte Verstrickungen und schicksalhafte Begegnungen. Die Gefängniswärterin Iro (Agathe Bonitzer) verliebt sich in den sanften Häftling Jon, sie stellt ihm eine Playlist mit Klageliedern zusammen, Monteverdi, Vivaldi, Purcell, der Zettel hängt an der Zellenwand. Nicht alles davon ist im Film zu hören, auch wenn die mitunter antik anmutenden Jünglinge und jungen Frauen manchmal zu singen beginnen, ganz allein, schlicht, fragil.
Jon unterrichtet die Dorfkinder im Freien, Jon und Iro gründen eine Familie, sie besuchen seine Zieheltern, eine dörfliche Sommeridylle. Man erntet Granatäpfel, die Tochter spielt mit den Nachbarskindern, und die Männer verfolgen das Endspiel der Fußball-WM. Italien gewinnt, will heißen, wir sind im Jahr 2006.
Ansonsten herrscht eine mythische Zeit, in der die Wunden zwar langsam heilen, aber Ödipus nicht altert und seine Frau die Erkenntnis über die Vergangenheit ihres Mannes nicht erträgt. Die Generationenfolge von „Music“ entspricht dabei weniger der von Geburtsjahrgängen als einem zyklischen Muster, das auch die Omnipräsenz von Google News im Berlin der Gegenwart mühelos miteinschließt.
Ein Baby wird gerettet, eine Gardine weht im halb verdunkelten Zimmer, zwei lieben sich und waschen sich gemeinsam die Hände. Die Sonne flimmert auf dem Mittelmeer, und beim Kreuzworträtsel-Lösen schlägt die eine Wärterin der anderen „Traum“ als Synonym für „Spiegel“ vor. Das Wasser, der Wind, Kinder, kleine Tiere – Schanelec setzt Zeichen, sehr leicht, sehr frei choreografiert sie Gesten und Bewegungen. Mit oft hypnotischer Wirkung.
Dabei fallen das Symbolische, das Sinnliche und das Praktische mitunter in eins. So erinnern die hohen Holzabsätze der Häftlinge einerseits an die stelzenartigen Kothurne im griechischen Theater, gleichzeitig animieren sie ihre Träger zur Verlangsamung und nicht zuletzt schützen sie vor den Ratten auf dem Gefängnisboden.
Am Ende, in der Seen- und Wasserlandschaft rund um Berlin, betrachtet die Kamera in einer langen Plansequenz Jon beim Spaziergang im Freundes- und Familienkreis. Singend läuft die kleine Gruppe an einem Flussarm entlang, Phoebe, Jons inzwischen halbwüchsige Tochter, umarmt einen entgegenkommenden Jungen. Die nächste Generation, die nächste Annäherung, und aus dem Off erklingt eine heitere Passacaglia von Andrea Falconieri. Tanzen statt Schreiten: Die Musik wäre dann nicht nur ein Trost, sondern die Rettung.