Angekränkelte Bürgerlichkeit: Dieter Borchmeyer und Hanjo Kesting über Thomas Mann
Der Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer, Jahrgang 1941, hat viele Verdienste. Nach Arbeiten unter anderem zur Weimarer Klassik, zur Musikdramatik Richard Wagners und zur kulturellen Identität der Deutschen hat er nun eine 1500 Seiten dickes Buch über Thomas Mann verfasst, dass er kürzlich in der „NZZ“ selbst ausgiebig rühmen durfte. Sein Eigenlob, es handle sich um die „erste umfassende Werkmonographie“, erscheint angesichts der ausufernden Thomas-Mann-Forschung allerdings kurios.
Eine neue, ungewohnte Sichtweise kann Borchmeyer bei aller Gelehrsamkeit nicht bieten. Vielmehr kompiliert er seine eigenen Arbeiten aus vier Jahrzehnten, moderiert den Stand der Forschung und tritt damit in Konkurrenz zu den bestehenden Thomas Mann-Handbüchern.
Entschieden grenzt er sich vom populären Biographismus ab, lenkt den Blick von den Familienaufstellungen der Manns zurück auf die Romane, Erzählungen und Essays. Er lüftet die mythischen, kulturgeschichtlichen und philosophischen Schichten der Werke, nennt die Motive und Bezüge. Für Borchmeyer sind Thomas Manns Romane Ideenmusik und literarisierte Geistesgeschichte. Mit den dargestellten „Realitäten“ hält er sich dagegen selten länger auf.
Humoristische Souveränität
Symptomatisch erscheint sein Verdruss über Viscontis Verfilmung des „Tod in Venedig“. Sie reduziere die Novelle „auf ihre bloße Realschicht“ und mache aus ihr eine „sentimentale homoerotische Love Story“. Mag sein, aber auf tragikomische Liebesverwicklungen laufen auch viele der von Borchmeyer so geschätzten Mythen hinaus. Und gerade im „Tod in Venedig“ wirkt die atmosphärische Beschreibungskunst oft beeindruckender als die nach akademischen Vorlagen gepinselten mythischen Sequenzen. Hier hat Thomas Mann die humoristische Souveränität in der Bearbeitung mythischer Vorlagen noch nicht erreicht, die später die Josephsromane und den „Erwählten“ auszeichnet.
Eingehend beschäftigt sich Borchmeyer mit Manns politischer Entwicklung. Als 40-Jjähriger nahm er in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von Rechtsaußen das linke „Moralbonzentum“ aufs Korn, als Siebzigjähriger bewegte er sich auf ein beinahe schulmäßig marxistisches Verständnis des Faschismus zu. Als Ironiker stand er dem Meinungsdienst eigentlich reserviert gegenüber.
Umso mehr erstaunt die klarsichtige Entschiedenheit, mit der er schon in den zwanziger Jahren den publizistischen Kampf gegen den Nationalsozialismus führte. In der frühen Bundesrepublik bekam er dafür wenig Dank. Insbesondere die Gruppe 47 machte aus ihrer Aversion keinen Hehl. Die Vertreter der Kahlschlag-Ästhetik empfanden Manns elaborierten Stil und seine Ironie als nicht mehr zeitgemäß. In ihrer Ablehnung waren sie sich einig mit den Vertretern der „Inneren Emigration“, die im Dritten Reich ihr prekäres Arrangement mit den Verhältnissen gefunden hatten und sich von dem kalifornischen Exilanten nicht politisch belehren lassen wollten.
Borchmeyer macht darüber hinaus deutlich, wie die Gruppe 47 jenen „Ton der Thomas-Mann-Lästerung“ pflegte, „in den noch 1975 die deutschen Edelbitterintellektuellen aus Anlass seines 100. Geburtstags einstimmten… Aggressivster Wortführer der Polemik gegen Thomas Mann in dieser Zeit ist der Kritiker Hanjo Kesting.“
Edelbittere Intellektuelle
Kesting, damals ein junger Redakteur beim NDR, war geprägt von der Achtundsechziger-Revolte. Seine 1975 im „Spiegel“ veröffentlichte Abrechnung „Der Selbsterwählte oder Zehn polemische Thesen über einen Klassiker“ war ein literaturkritisches Attentat und erzeugte noch mehr Wirbel, als Martin Walser in das Mann-Bashing einstimmte. Inzwischen hat sich Hanjo Kesting längst von dem Pamphlet distanziert.
Unter dem Titel „Thomas Mann – Glanz und Qual“ hat er nun ebenfalls ein Resümee seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Schriftsteller vorgelegt. Ausgiebig widmet er sich dabei auch jenem Werk, dem Borchmeyer kein eigenes Kapitel einräumt, obwohl es so umfangreich ist wie Thomas Manns vier Großromane zusammen: den Tagebüchern mit ihrer faszinierenden Mischung aus Alltagsmalaisen und Weltgeschehen, Frühstücksei und Roosevelt, Verdauungsproblemen und Nöten des Exils. Dass die Tagebücher, wie Thomas Mann selbst meinte, ohne „literarischen Wert“ seien, lässt Kesting nicht gelten: „In den Tagebüchern schreibt er direkter, unverstellter, auch ungeschminkter, wenngleich nicht weniger literarisch.“
Kesting hat ein feines Sensorium für Manns angekränkelte, brüchige Bürgerlichkeit. Je bedrohter diese allerdings von außen durch den Nationalsozialismus war, desto fitter und kampfentschlossener wurde der alte Thomas Mann, „als habe der früher oft kränkelnde Schriftsteller sich niemals gesünder und positiver gefühlt als in dieser Zeit der Erschütterung der Weltzustände. Manchmal wirkt er jetzt sogar ein wenig zu gesund, zu kampfentschlossen.“ 1975 hatte Kesting sich noch über Manns privilegierte Wehleidigkeit amüsiert. So kann man sich irren.
Zur Startseite