Suche nach Wurzeln

Schade, dass sich die Zeit nicht zurückdrehen lässt. Die Not kann der Mensch lindern, Schulden zurückzahlen – aber vergangen ist vergangen. Das sagt die Mutter, während sie um Berge von Besitztümern wandert, die ihr nichts mehr bedeuten. Die sie in einem Keller in Deutschland längst vergessen hatte.

Das Kaffeeset mit Goldbeschichtung, 120 Mark teuer. Die Gläser von Woolworth, zu Silvester gekauft. Die Osterhasen aus Porzellan, zwei Stück in Pink. Alles aufbewahrt in der Hoffnung, irgendwann mal eine größere, schönere Wohnung zu haben – oder den Kindern alles zu vermachen.

Die Kinder wachsen in der Türkei auf

Die große Wohnung gab es nie. Das Verhältnis zu den Kindern ist überschattet von den Jahren der Trennung, die eine große Leere hinterlassen haben. Während die Mutter in Deutschland für die bessere Zukunft gearbeitet hat, sind die Kinder in der Türkei aufgewachsen. Daran lässt sich nichts mehr ändern.

Die Szene stammt aus dem Video „Souvenirs“, das der Theater- und Filmemacher Hakan Savas Mican mit seiner Mutter Gülsen Mican inszeniert und als Installation (vor den im Raum verteilten Porzellan-Stapeln) beim Berliner Herbstsalon am Gorki Theater gezeigt hat.

Nun verwebt der Regisseur Ausschnitte aus dieser und anderen seiner filmischen Arbeiten („Esma trinkt keinen Tee mehr“, „Zeit der Haselnüsse“) in das Stück „Berlin Kleistpark“. Woraus sich eine mehrschichtige Erzählung ergibt, die fassbar macht, was es bedeutet, im wahrsten Sinne aneinander vorbei zu leben.

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„Berlin Kleistpark“ ist der Mittelteil einer Stadt-Trilogie, in der Mican Orte im Wandel und Menschen an Scheidepunkten portraitiert. Der dritte Teil, „Berlin Karl-Marx-Platz“, hatte an der Neuköllner Oper Premiere, die Pandemie hat die Chronologie durcheinander gebracht.

Aber das spielt keine Rolle, weil die urbanen Transitgeschichten nicht aufeinander aufbauen. In „Berlin Oranienplatz“ ging es (inspiriert von Louis Malles „Das Irrlicht“) um einen im Leben falsch abgebogenen Loner, gespielt von Taner Sahintürk, der am letzten Tag des Sommers vor der Frage stand: Bleiben oder abhauen?

[Maxim Gorki Theater, nächste Vorstellungen: 17. und 18.12., 19.30 Uhr, weitere im Januar 2022]

„Berlin Karl-Marx-Platz“ war eine Wende-Ballade, die Lovestory von Cem aus Neukölln und Lisa aus Marzahn, die wegen verschiedener familiärer Erwartungslasten an neue Grenzen stießen. Und auch in „Berlin Kleistpark“ am Gorki Theater steht nun ein Paar im Zentrum, das mit seinen Verschiedenheiten, der Suche nach Wurzeln und dem Gefühl von Heimatlosigkeit zu kämpfen hat.

Moria (Sesede Terziyan) und Adem (Taner Sahintürk), sie Tochter von israelischen, er Sohn von türkischen Eltern, wollen eine gemeinsame Wohnung in Berlin kaufen, vielleicht Kinder bekommen. Aber sie liefern sich spitzenreiche Scharmützel, die gerne mal auf Identitätsfragen zielen.

Du bist so deutsch

„Du bist manchmal so deutsch“, giftet Moria, „du bist wie dieser Schlager, den du rauf und runterhört, ,Gefühle haben Schweigepflicht’“. Szenen, in denen Autor Hakan Savas Mican ein Talent für treffsichere Screwball-Comedy zeigt. Terziyan und Sahintürk spielen sie großartig, mit dem nötigen Grundernst, mit Verletzungsabsicht aus Hilflosigkeit. In diesen fragilen Zwischen-den-Türen-Zustand platzt Adems Mutter, die nicht mehr lange zu leben hat und mit dem Sohn ins Reine kommen will.

Çigdem Teke spielt diese Meryem auf der Bühne, in dazwischen geschnittenen filmischen Passagen wird sie von Sema Poyraz verkörpert – und darüber legen sich noch die dokumentarischen mit Micans tatsächlicher Mutter. Wie ein mehrfach belichtetes Foto wirkt das, auf dem ein eigentlich vertrauter Mensch plötzlich fremd und ungreifbar erscheint.

Es ist der persönlichste Teil der Trilogie

„Berlin Kleistpark“ ist erkennbar der persönlichste Teil von Micans Stadt-Trilogie – ohne dass die Geschichte je privat würde. Oder gar sentimental. Zur Live-Musik einer vierköpfigen Band, die zwischen Jazz, Chanson oder türkischer Klanglandschaft changiert (wobei sich Sesede Terziyan als fulminante Sängerin beweist), überträgt sich ein universelles Gefühl von Verlorenheit.

Es geht um Verletzungen, die den Blick verstellen auf die Geschichte des anderen.

Einmal, in einem Ausschnitt aus „Fremd. Yaban“, erzählt die Mutter, wie sie sich in Deutschland versucht hat zurechtzufinden, wo alles fremd war und sie sich nicht die Namen der Bahnhöfe merken konnte. An ihrem ersten Arbeitstag gab ihr Mann ihr zwölf Blätter, „an jeder U-Bahn-Station habe ich ein Blatt aus meiner Tasche genommen. Beim letzten Blatt wusste ich: Das ist die Station der Fabrik“.