Blut und Prunk
Fast scheint es, er habe sich den Moment ausgesucht: Am Ostermontagabend ist Hermann Nitsch 83-jährig gestorben. Die Passion Jesu als Lebensleitmotiv? „Ich bin keiner Religion verhaftet“, sagte der österreichische Künstler dazu einmal, „mich fasziniert der Buddhismus, der Hinduismus, der Dadaismus, der Islam : alles ist wichtig. Aber ich glaube an die Schöpfung, ich glaube an das Ganze und an die Unaufhörigkeit der Lebendigkeit”.
Dass ihn „der sinnliche Prunk antiker Opferkulte“ besonders faszinierte, ist in den rituellen Tierschlachtungen, Blutschüttereien und Gedärmspielen unübersehbar, für die Nitsch berühmt wie (nicht nur bei Tierschützer:innen) berüchtigt war. Die große Retrospektive „Hermann Nitsch. Orgien-Mysterien-Theater“ breitete 2006/07 im Gropius Bau mit Schüttbildern, Operationsbesteck, liturgischem Gerät, Gewändern und Doku-Material das vollständige Nitsch-Vokabular aus, bot den Berlinern aber mangels Live-Acts einen eher abstrakten Überblick. Provozierend wirkte seine Kunst allemal.
Er war Mitglied des Wiener Aktionismus, einer Gruppierung, die zwischen 1962 und 1970 radikal-ästhetisch gegen repressive gesellschaftliche Zustände anging. Nitsch war mit seinen öffentlichen Aktionen im Wien der 1960er auf Konfrontationskurs gegenüber den Behörden, landete mehrmals im Gefängnis und zog 1968 zeitweilig nach Deutschland.
In den 1960ern landete Nitsch im Gefängnis
Als „Protestkünstler“ sah er sich nie: „Mich hat eher das Ganze im kosmischen Sinn interessiert, und es wäre falsch zu glauben, meine Kunst sei eine politische Kunst“, betonte Nitsch, dessen Schaffen gewaltig auf die Performancekunst ausstrahlte. Marina Abramovic, John Bock, Christoph Schlingensief, und Paul McCarthy beriefen sich auf den gebürtigen Wiener.
Sein Vater fällt im Zweiten Weltkrieg. 1938 geboren, von der Mutter alleine aufgezogen, wächst der Junge mit Bombenangriffen und in Todesangst auf. Seine Ausbildung erhält er an der Wiener Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt. 1968 verlässt er die Heimat, weil er seinen Spielraum eingeschränkt sieht, lebt und kreiert Aktionen in Deutschland und den USA, kehrt aber bald nach Österreich zurück. 1971 erwirbt er das Schloss Prinzendorf im Weinviertel, das zum Zentrum seines Schaffens wird.
Höhepunkt seines „Orgien-Mysterien-Theaters“, in dem sich Text, Musik, Malerei und Performance umschlingen, wird das 1998 auf dem Schlossgut gefeierte „6 Tage Spiel“. „Weißgekleidete Adepten führen, vor lärmiger Geräuschkulisse, junge Nackte beiderlei Geschlechts umher oder schleppen sie auf sänften- bis galgenartigen Gestellen“, berichtet damals „Der Spiegel“.
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Die Liebe zum Gesamtkunstwerk verband den Vielseitigen, der sogar Sinfonien komponierte, mit Richard Wagner. Ausgerechnet der Pandemie verdankte Nitsch (der schon 1995 Bühnenbild und Kostüm für Jules Massenets „Hérodiade“ an der Wiener Staatsoper geschaffen hatte) im vergangenen Jahr sein Bayreuth-Debüt. Von „Regie“ konnte man im Fall der (gekürzten) „Walküre“ nur bedingt sprechen, weil die in schwarzen Soutanen gewandeten Sänger:innen lediglich herumstanden, während Nitschs Team den Bühnenraum aus Farbeimern beschüttete.
„Sehr friedlich“ sei er nach schwerer Krankheit am Montag eingeschlafen, gab nun seine Ehefrau Rita Nitsch bekannt. Den Musikwunsch für seine Beerdigung hat Hermann Nitsch schon vor ein paar Jahren geäußert – Beethovens 7. Sinfonie. „Richard Wagner hat zurecht gesagt, dass das eine Apotheose des Tanzes ist“, meinte der Künstler. „Das ist der Dionysos, der sich gebärdet, der zur Orgiastik, zum Tanz, zur extatischen Daseinsform auffordert. Und ich glaube an die ewige Wiederkunft, dass alles wiederkehrt – der Tod ist die Möglichkeit für eine neue Lebendigkeit.“