Gratwanderung der Klassikstars

Cecilia Gasdia blickt optimistisch in die Zukunft. Das Opernfestival in der Arena von Verona, das sie seit 2018 als Intendantin leitet, hat die letzten zwei Krisenjahre glimpflich überstanden. Da die meisten Corona-Maßnahmen in Italien inzwischen aufgehoben wurden, können die Aufführungen in diesem Sommer sogar wieder vor vollen Rängen stattfinden.

Bei den Festspielen, die dieses Jahr am 17. Juni eröffnet wurden, haben in dem römischen Amphitheater pro Abend immerhin rund 13 000 Zuschauer Platz. Gasdia, deren eigene Karriere als Sopranistin in der Arena begann, berichtet, die ersten Vorstellungen seien restlos ausverkauft gewesen.

Auch die Starsopranistin Anna Netrebko, die nach Kriegsausbruch zunächst von westlichen Bühnen verschwand, da ihr mangelnde Distanz zu Russlands Präsident Wladimir Putin vorgehalten wurde, ist in Verona wieder dabei.

Im Wechsel mit der ukrainischen Sopranistin Liudmyla Monastyrska tritt sie als Aida in Giuseppe Verdis gleichnamiger Oper auf, außerdem in der Hauptrolle in Giacomo Puccinis „Turandot“ – eine Partie, die die russische Diva an der Metropolitan Opera und an der Berliner Staatsoper nicht mehr singen durfte. In New York sprang Monastyrska für sie ein.

Seit Netrebko öffentlich den Krieg verurteilt hat (allerdings ohne mit Putin zu brechen), füllt sich ihr Terminkalender in Europa wieder zusehends. Ihre Präsenz in der Arena stand ohnehin nie in Frage. „Kunst schafft Brücken, statt sie zu zerstören“, sagt Cecilia Gasdia. Kein russischer oder weißrussischer Künstler werde wegen seiner Nationalität vom Festival ausgeschlossen. „Wir lassen uns von niemandem den Pass vorlegen.“

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Diese Haltung scheint zumindest beim Hochkulturpublikum auf breite Zustimmung zu stoßen. Nicht wenige Opern- und Konzertbesucher verorten Kunst in einer idealen Sphäre, aus der die Tagespolitik ausgeschlossen bleiben soll. Besonders deutlich wurde dies in Italien, wo Anfang März nach der Ausladung des russischen Dirigenten – und erklärten Putin-Freundes – Valery Gergiev durch die Mailänder Scala die Emotionen in den sozialen Netzwerken hochkochten. Gergiev dirigiere göttlich – und damit basta, hieß es.

Die russische Starsopranistin Anna Netrebko war in die Kritik geraten, da sie sich zunächst nicht von Putins Angriffskrieg…Foto: REUTERS/Edgard Garrido

Netrebko, die im Gegensatz zu Gergiev zu den gegen sie gerichteten Vorwürfen öffentlich – wenn auch nicht eindeutig – Position bezog, wurde von der Scala im Mai erneut eingeladen. Das Publikum feierte sie mit Ovationen. Niemand schien Interesse daran zu haben, ihre Worte auf die Goldwaage zu legen. Am anderen Ende des Spektrums wurden einzelne Stimmen laut, die die russische Kultur im Allgemeinen – auch Komponisten wie Tschaikowsky und Schriftsteller wie Dostojewski – in die Verbannung schicken wollten.

Alle Russen in einen Topf zu werfen, erscheint absurd. Wo in der Kontroverse die roten Linien verlaufen, wird zunehmend unübersichtlich. Das Dilemma ukrainischer Künstler, die zurzeit an internationalen Bühnen engagiert sind, ist weitgehend aus dem Blickfeld verschwunden. Sie befinden sich in dem moralischen Zwiespalt, einerseits ihr angegriffenes Land unterstützen zu wollen und andererseits ihre berufliche Existenz sichern zu müssen. Viele von ihnen halten sich fern der Heimat auf, wo sie Familie und Freunde in Gefahr wissen.

Tschaikowsky, Strawinsky? In Baden-Baden trat die ukrainische Sopranistin Monasytryska nicht auf

Dass die Sopranistin Liudmyla Monastyrska ihre Mitwirkung an einer Operngala bei den Osterfestspielen Baden-Baden mit den Berliner Philharmonikern unter Leitung von Andris Nelsons absagte, sorgte im April kaum für Schlagzeilen. Viel größer war die Aufregung darüber, dass die ursprünglich mit Netrebko geplante Veranstaltung entfiel.

Monastyrskas Absage sei nach einer „Intervention“ des ukrainischen Kulturministeriums erfolgt, teilte die Stiftung Berliner Philharmoniker auf Nachfrage mit. Sie habe nicht gemeinsam in einem Programm mit russischen Künstlern – in diesem Fall dem Tenor Bogdan Volkov – und mit russischer Musik von Tschaikowsky, Rachmaninow und Strawinsky auftreten dürfen. Die Sängerin ließ jedoch später verlauten, sie entscheide selbst, welche Engagements sie annehme oder nicht.

Die ukrainische Regierung hält eine kulturelle Aussöhnung in Kriegszeiten für unmöglich

Anfang April hatte die Regierung der Ukraine auf ihrer Website in englischer Sprache eine Stellungnahme zur „Beendigung des kulturellen Dialogs mit dem Aggressor“ veröffentlicht. Wie viel Entscheidungsspielraum die darin enthaltenen „dringenden Empfehlungen“ lassen, bleibt dahingestellt. Eine Aussöhnung zwischen Russland und der Ukraine durch Kultur sei in Kriegszeiten „unter keinen Umständen“ möglich, heißt es.

Eine Beteiligung von Ukrainern an gemeinsamen Projekten unter dem Motto „Wir sind für Frieden“ würde die wahren Gründe für den russischen Angriffskrieg verschleiern. Zugleich stellt das Ministerium klar, nicht zur Isolation russischer Künstler aufzurufen, die den Krieg in der Ukraine öffentlich verurteilten und der Russischen Föderation die politische Verantwortung dafür zuwiesen.

Dass Künstler in dieser Lage in einen Gewissenskonflikt geraten, liegt wohl auf der Hand. Nach einer „Aida“-Vorstellung in Neapel kurz nach Beginn der russischen Invasion umarmte Monastyrska auf offener Bühne spontan die russische Mezzosopranistin Ekaterina Gubanova. Das Publikum skandierte „Frieden, Frieden!“ An der New Yorker Met trat sie in eine ukrainische Flagge gehüllt vor den Vorhang, um den Applaus entgegenzunehmen. In Verona ist sie nun zusammen mit einem russischen Amonasro, Roman Burdenko, und einer belarussischen Amneris, Ekaterina Semenchuk, in einer alten Inszenierung von Franco Zeffirelli aufgetreten – eine Gratwanderung im Namen der Kunst.