Umstrittener Dokumentarfilm „Russians at War“ : Der Mensch in der Uniform

Der 20-Jährige putzt seine Stiefel und hat nichts von Kriegsverbrechen gehört. Kameraden, die Gräueltaten begehen? Der junge Russe mag das nicht glauben. Den ersten Fronteinsatz seines Bataillons wird er nicht überleben. Die Soldaten sammeln die Leichen ein, trauern, weinen, rufen die Familien an. Doch, es ist ein gerechter Krieg, sagt einer, der bisher gezweifelt hat. Er zeigt ein Handyvideo, auf dem aus Drohnen-Perspektive zu sehen ist, wie ein verletzter russischer Soldat um sein Leben bettelt. Die nächste Granate tötet ihn.

Der Dokumentarfilm „Russians at War“ löste beim gerade zu Ende gegangenen Filmfest Venedig eine heftige Kontroverse aus. Sieben Monate begleitete die russisch-kanadische Regisseurin Anastasia Trofimova die Soldaten Richtung Front, embedded, aber ohne staatliche Genehmigung. Während die ebenfalls in Venedig präsentierte ukrainische Doku „Songs of Slow Burning Earth” die grausamen Folgen der Invasion zeigt, porträtiert Trofimova die Invasoren als überforderte, hilflose, ganz gewöhnliche Männer. Kriegsführung? Fehlanzeige. Intakte Waffen? Manches Geschoss wird provisorisch mit der Bohrmaschine repariert. Die einen ziehen die Uniform wegen des Solds an, andere aus einem vagen Patriotismus heraus. Wieder andere sagen: Befehl ist Befehl.

Eine russische Soldatin an der Front in der Ukraine.

© Filmfest Venedig

Darf man das, kann man das, Mitgefühl für diese Täteropfer empfinden, weil sie vielleicht vom traditionellen russischen Untertanengeist geprägt, aber letztlich arme Kerle sind? Trofimova, die selbst nicht in Russland lebt, hakt nach, spricht von Invasion, wenn die Soldaten von Bruderkrieg reden. Sie zeige eine Wahrheit, die sonst ausgeblendet bliebe, so die Filmemacherin: dass viele russische Soldaten weder unsterbliche Helden noch Verbrecher sind. Ihr Film hat jedoch eine klare Dramaturgie. Durch den Fokus auf die Toten und die Trauer am Ende, vor allem durch das Drohnenvideo schlägt er sich auf die Seite der Invasoren, mit den Mitteln der Empathie.

Wer dem Kinopublikum verwundete und sterbende russische Soldaten nahebringt und lediglich als Hörensagen andeutet, was in Butscha oder Mariupol geschah, zeigt nur ein Zerrbild der Wahrheit. Auch Darya Bassel, der ukrainische Produzent von „Songs of Slow Burning Earth“, spricht von einem Zerrbild. „Wir können uns für Trofimova nur freuen, dass sie das Glück hatte, keine Kriegsverbrechen zu erleben. Tausende Ukrainer hatten dieses Glück leider nicht“, schreibt er auf Facebook.