Als die Republik vor die Hunde ging
Dieser Kampf wird mit Buchstaben geführt, mit Pinseln und Farben. Die Jugendlichen sind nachts in den Seitenstraßen ums Charlottenburger Amtsgericht unterwegs, sie hinterlassen Parolen und verändern die Plakate von der Konkurrenz. „Wählt Hitler!“, schreiben sie unter eine Karikatur des Naziführers. „Er bringt euch den Krieg – der Krieg, das Ende Deutschlands!“ Marete reicht Ernst die Farbtöpfe hinauf: „Bitte gelb – rot – blau – jetzt rot“. Auf den Asphalt malen sie die drei Pfeile der „Eiserner Front“, einem Bündnis von republiktreuen Parteien und Gewerkschaften, daneben die Aufforderung: „Trefft die Mörder der Freiheit!“
Was dann schneller passiert, als ihnen recht sein kann. Ein warnender Pfiff ertönt, Ernst springt vom Klappstuhl und rettet sich mit Marete in ein Haus. Dummerweise öffnet die junge Frau noch einmal kurz die Tür, weil sie die Pinsel holen will, die liegengeblieben waren. Und schon stehen drei SA-Männer im Eingang, einer brüllt: „Türlich wieder so’n Judenlümmel mit ’nem deutschen Mädel!“ Marete wird von einem Schlag getroffen, der sie gegen die Wand wirft. Zwei Gegner stürzen sich auf Ernst.
Mörder der Freiheit
Bis noch einmal ein Pfiff zu hören ist und die SA-Schläger davonrennen. Im Taschenlampenlicht sieht Marete Blut, das über die Hand des Freundes läuft. An seinem Ellbogen klafft eine Stichwunde. „Hast du ’nen Taschentuch?“, kann er noch fragen, bevor er ohnmächtig wird. Auf den Kellerstufen liegt ein SA-Dolch mit der Inschrift „Blut und Ehre“.
Szenen aus dem Wahlkampf im November 1932, dem letzten der Weimarer Republik. Die NSDAP verlor Stimmen, trotzdem wurde Hitler zwei Monate später zum Reichskanzler ernannt. Die Niederlage der Nazis, die Marete „so glühend ersehnt hatte, erfüllte sie jetzt nicht mehr mit Triumph, sondern mit Mattigkeit“, schreibt Susanne Kerckhoff in ihrem Roman „Die verlorenen Stürme“. Denn dass die Demokratie am Ende ist, ahnt selbst eine 17-jährige Schülerin.
Ihre Freundin Lilly Waitz ist mit ihrer jüdischen Familie nach Palästina geflohen, nachdem der Vater von der SA verprügelt, in einen Keller gezerrt und gefoltert worden war. Die Haushälterin von Maretes Vater und der Hausmeister zeigen offen ihre Sympathie für Hitler. „Deutschland erwache! – Juda verrecke!“, steht auf Hauswänden. Marete glaubt, dass die Deutschen sich von solchen Parolen abwenden werden. Sie seien doch kultivierte Menschen. Eine Illusion.
Mitgemacht, weggeschaut
„Die verlorenen Stürme“ ist ein früher Widerstandsroman, ursprünglich erschien er 1947 im Berliner Wedding-Verlag, der längst das Zeitliche gesegnet hat. Dass er nun noch einmal herauskommt, ist der Wiederentdeckung seiner Autorin zu verdanken. Susanne Kerckhoffs „Berliner Briefe“ waren der Überraschungserfolg des letzten Jahres. Darin geht sie 1948 hart ins Gericht mit dem Opportunismus der Deutschen und auch ihrem eigenen, beschreibt das Mitmachen und Wegschauen beim Völkermord an den Juden und wie sich die Täter gleich nach dem Krieg zu Opfern stilisieren. Die Themen sind bereits im Roman angelegt, nur nicht so scharf und eloquent formuliert wie in den Briefen.
„Ich will laut sein“, sagt die Heldin. Marete lebt mit ihrem Vater zusammen, einem Schriftsteller, der sich in einer literarischen Parallelwelt eingerichtet hat. Politik interessiert ihn wenig, egal „ob Sozi oder Kozi, ob Nazi oder Fazi“. Die Tochter besucht die fortschrittliche Charlottenburger Lessing-Schule, in der die Schülerinnen wie in einem Parlament etwa darüber abstimmen dürfen, ob der Verein für das Deutschtum im Ausland dort auftreten darf. Die Mehrheit ist dagegen.
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Mit dem Proletariat kommt das bürgerliche Mädchen durch einen Arbeiter in Kontakt, der mit seinen ausgemergelten Kindern in einer Kellerwohnung haust und sie für den Kommunismus zu begeistern versucht. Eine Genrebild wie aus Zilles Milljöh. Sie hängt Bilder von Marx und Engels über ihr Bett, schließt sich aber nicht der Kommunistischen Jugend, sondern dem Nachwuchs der gemäßigteren Sozialistischen Arbeiterpartei an. Die Jugendlichen hören auf dem Grammophon Carola Neher Songs aus der „Dreigroschenoper“ singen und wollen bloß „kameradschaftlich“ miteinander umgehen. Trotzdem verliebt sich Marete in Ernst, einen jüdischen Genossen.
Marete ist ungestüm, sie will, dass nicht nur die Rechten sich radikalisieren. Und träumt von einer Welt, in der alle Menschen gleich sind, auch die Juden. Das mag naiv sein, aber für die Ungeduld und den Kampfgeist ihrer Protagonisten findet Kerckhoff starke Metaphern. „Die Erde bebte, und die Schwingungen teilten sich den Jungen mit“, so bringt sie den Generationenkonflikt auf den Punkt. Erich Kästner taucht am Rand der Handlung auf, doch die Leichtigkeit von seinem zeitdiagnostischen Roman „Fabian“ fehlt weitgehend. Ungelenke Rückblenden führen zurück bis zur Rekonvaleszenz des Schriftsteller-Vaters in einem Lazarett des Ersten Weltkriegs.
Flucht ohne Ausweg
Die Erde bebt, und die Katastrophe lässt sich nicht aufhalten. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten macht die Gruppe weiter, nun im Untergrund. Zwei werden verhaftet, einer emigriert. Lilly Waitz hat sich schon vorher in Haifa das Leben genommen, weil sie keine Chance mehr sah, nach Berlin zurückzukehren. Am Ende marschiert Marete mit anderen Schülerinnen in Viererreihen zu einer Propagandaveranstaltung. Hitlers Stimme bellt aus dem Lautsprecher, der Widerstand von Marete und ihren Freundinnen zeigt sich darin, dass sie schweigen. Schön waren sie doch, schreibt Kerckhoff, „diese winzigen Stürme gegen die allgemeine Ohnmacht“.
[Susanne Kerckhoff: Die verlorenen Stürme. Roman. Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2021. 232 Seiten, 20 €]
Die im Roman beschriebene Szene hat tatsächlich stattgefunden. Am 21. März 1933, dem „Tag von Potsdam“, war Susanne Kerckhoff mit ihren Mitschülerinnen zum Alhambra-Kino am Kurfürstendamm geschickt worden, um die Rundfunkübertragung zur Eröffnung des Reichstages zu hören. Der Herausgeber Peter Graf fand den Termin in Schulunterlagen. Überhaupt hat die Autorin viele Eigenschaften ihrer Heldin geteilt.
Auch ihr Vater, Walther Harich, war Schriftsteller. Kerckhoff wuchs bei ihm auf. Auch sie war Mitglied eines linken Jugendverbandes, der 1933 verbotenen Sozialistischen Arbeiter-Jugend. Und auch sie hatte eine jüdische Freundin, die nach Palästina floh und sich dort umbrachte. „Die verlorenen Stürme“ sind die Geschichte einer unter die Räder geratenen Jugend und ein beeindruckendes Zeitdokument.