Ukrainisches Kriegstagebuch (166): Schulbeginn mit Luftalarm und Fernunterricht
1.9.2023
Auch nach meiner Rückkehr aus der Ukraine bleibe ich in ständigem Kontakt mit Tanja und Lida vom Charkiwer Literaturmuseum. Wir chatten und zoomen, und die Themen gehen uns nicht aus. Alles dreht sich darum, was als Nächstes mit dem Album passieren wird, das ich Anfang August mit Serhij Zhadan und zahlreichen anderen Musikern in Charkiw aufgenommen habe. Es ist unser gemeinsames Projekt und wir haben damit noch ganz viel vor.
Allerdings stellt das Kulturmanagement in Kriegszeiten eine einzigartige Herausforderung dar. Manchmal scheint es fast so, als würden unsere Kollegen aus dem Nachbarland gerne daran teilnehmen, so wie bei unserem Dreh auf dem Freiheitsplatz vor drei Wochen, der von einem Luftalarm unterbrochen wurde. Das schrille Sirenengeheul hat es sogar in das Video geschafft.
Beim letzten Zoom-Call mit Tanja und Serhij haben wir über die geplante Tour im Oktober und einen möglichen Plan B diskutiert. Angesichts des kürzlichen Luftangriffs im Zentrum von Tschernihiw erwägen wir, dass die Sicherheitsvorschriften für Veranstaltungen im Osten des Landes in den nächsten Monaten verschärft werden könnten. Vielleicht wird es gar unmöglich, an den vorgesehenen Orten Konzerte durchzuführen, was sollen wir dann mit der Veranstaltung in Charkiw machen?
In diesem Fall haben wir überlegt, ob wir vielleicht in der U-Bahn auftreten könnten – dreißig Meter unter der Erde, sicherer geht es nicht. Der Sound wäre allerdings nicht optimal, da alle zehn Minuten Züge vorbeifahren. Eine Nachtveranstaltung wäre eine Lösung, da zu dieser Zeit keine Züge mehr fahren. Da sollten wir jedoch unserem Publikum ein Programm anbieten, das bis in die frühen Morgenstunden geht?
Russland greift immer wieder Schulen an
Als ich heute beim Frühstück meinen Facebook-Feed durchsah, bemerkte ich eine überraschend große Anzahl von Kinderfotos. Ich fragte mich kurz, warum plötzlich alle Eltern unter meinen ukrainischen Freunden beschlossen hatten, Bilder ihrer festlich gekleideten Kinder zu teilen, bis ich das heutige Datum sah. Da hatte ich keine weiteren Fragen – der 1. September. Wie konnte ich das nur vergessen?
In der Ukraine dauern die Sommerferien drei Monate, bis zum letzten Augusttag. Am 1. September beginnt die Schule, auch in meiner Kindheit war es schon so. Bis zur zehnten Klasse war ich kein großer Schul-Fan und habe den ersten Schultag nicht gerade enthusiastisch erwartet. Aber dann brach eine Zeit des Wandels an, und selbst unsere Schule hat sich neu erfunden. Die letzten zwei Jahre waren dann richtig spannend, wir hatten eine großartige Klasse und einige neue, junge und offene Lehrer.
Aus meinen eigenen Beobachtungen und Erfahrungen konnte ich den Eindruck gewinnen, dass die ukrainischen Schulen in den letzten Jahrzehnten Fortschritte gemacht haben. Ich hatte die Gelegenheit, einige von ihnen zu besuchen, sowohl in Charkiw als auch im Donbass, führte Gespräche mit Schülern und Lehrern, nahm mir Zeit, Schulbücher zu durchblättern.
Seit dem Auftakt der Großen Invasion hat sich gezeigt, dass Schulen zu Angriffszielen russlands geworden sind. In den besetzten Gebieten werden ukrainische Schulbücher vernichtet, der Unterricht wird von neuen Lehrern übernommen, die aus Russland importiert werden.
Der 1. September 2023 unterscheidet sich stark von den vorherigen Jahren. Zahlreiche Kinder mussten mit ihren Eltern das Land verlassen, und einige von ihnen setzen nun ihre Ausbildung sowohl an den neuen Wohnorten als auch online in ihren ukrainischen Schulen fort.
In der Ukraine von heute ist aus verständlichen Gründen nicht überall persönlicher Unterricht möglich. In seinem Instagram-Livestream heute präsentierte Präsident Selenskyj die brandneue App Mrija, die für Schüler sowie deren Eltern und Lehrer konzipiert wurde. Diese App bietet Stundenpläne, ein Schultagebuch, eine individuelle Bibliothek für die Lernenden sowie Videounterricht für AGs und vieles mehr. Zusätzlich enthält sie ein Tool, mit dem Eltern überprüfen können, ob ihr Kind während eines Luftalarms sicher ist.
Im Ukrainischen steht das Wort Mrija für Traum. Mein Traum wäre, dass es keinen Bedarf mehr gibt für den Teil der App, der das Verhalten von Kindern während eines Bombenangriffs regelt.