Die Schweinebucht als Videospiel

Die frisch restaurierte Kolonialvilla fügt sich diskret ins Straßenbild der Avenida Paseo ein, die das Botschaftsviertel Vedado in Richtung Meer durchquert. Nichts lässt vermuten, dass hinter ihren Zinnenmäuerchen eine neue Pilgerstätte der kubanischen Revolution liegt. Erst in einer Seitenstraße weist ein Schriftzug darauf hin, dass man sich vor dem Eingang des „Centro Fidel Castro Ruz“ befindet. In der zweistöckigen Residenz sind auf 1400 Quadratmetern eine Bibliothek und Buchhandlung nebst Graphikwerkstatt sowie neun Ausstellungssäle untergebracht, der Geschichte Kubas seit 1926 gewidmet, dem Geburtsjahr des „Máximo Líder“.

Der Eintritt ist kostenlos. Führungen können telefonisch oder per Mail gebucht werden, allerdings nur auf Spanisch. Die Historikerin in Uniform lässt auch keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Sprache des Klassenfeindes hier wenig erwünscht ist. Für Touristen, die wegen des Ukrainekrieges in Kuba gestrandet sind, übersetzt sie aber gerne einmal ins Russische.

Besitzer des Prachtbaus aus dem späten 19. Jahrhundert war ein steinreicher Banker und Tabakhändler namens Enrique Juan Conill y Rafecas. Über ihn verrät eine elektronische Informationstafel, dass er 1895 für Kubas Unabhängigkeit von Spanien kämpfte. Seine Frau Lily wird als Präsidentin der Liga Katholischen Damen vorstellt. Das höchste öffentliche Amt, das eine Frau vor der Revolution bekleidete, fügt die Führerin hinzu.

Das Leben als multimediales Epos

Da fällt manchem die jesuitische Erziehung der Brüder Castro ein, die ihnen später helfen sollte, enge Beziehungen zum Vatikan zu knüpfen. Dutzende Medaillen, Orden und Gastgeschenke, die Fidel Castro von 88 Auslandsreisen mitbrachte, sind in Schrankvitrinen versammelt, darunter drei Lenin-Orden und ein goldenes Teegeschirr der Islamischen Republik Iran. Mit strahlendem Lächeln zeigt ihn eine Bronzebüste, die der frisch gewählte Staatspräsident Xi Jinping 2014 mit nach Kuba brachte.

In den folgenden Räumen wird Fidels Leben als multimediales Epos aus unterschiedlichen Perspektiven projiziert, kommentiert und musikalisch untermalt. Die Besucher erleben den Berufsrevolutionär in seinen Lieblingsrollen als strategischer Feldherr, überzeugter Internationalist und Volkstribun. Fotos zeigen ihn auch als passionierten Leser, unermüdlichen Feldarbeiter und begeisterten Sportler. Dazu hinter Glas seine Lieblingsbücher, eine frisch gebügelte Arbeitskluft und das Baseballdress aus einem Spiel mit Venezuelas Präsident Hugo Chávez. Andernorts erinnern seine Uniform, Kampfstiefel und Winchester an die ersten Monate der Guerilleros in den Bergen der Sierra Maestra.

Sämtliche Staatsbesuche und öffentlichen Auftritte Fidels sind über Touchscreens abrufbar. So auch sein Besuch in Ost-Berlin im Juni vor 50 Jahren, als er der DDR ein Stück Karibik schenkte: eine unbewohnte, nach Ernst Thälmann benannte Sandinsel, die heute im militärischen Sperrgebiet der Schweinebucht liegt. Oder seine Begrüßung der ersten ukrainischen Kinder aus Tschernobyl im März 1990. Insgesamt wurden rund 26 000 Opfer der Atomkatastrophe in Kuba behandelt.

Die letzte Station erinnert an ein Mausoleum

Auf einer interaktiven Karte verfolgt man den Siegeszug der Kommandanten im Januar 1959. Jede Schlacht der Revolutionäre auf dem Weg in die Hauptstadt ist als Videospiel erlebbar. Auch die US-Invasion der Schweinebucht im April 1961 wird wechselweise aus Drohnen- oder Froschperspektive dargestellt. Aus dem Cockpit einer MIG kann der Betrachter Kriegsschiffe der Invasoren schrottreif schießen und Fidel dabei bewundern, wie er die Gegenoffensive anführt.

Die letzte Station erinnert an ein Mausoleum, an dessen Wänden Persönlichkeiten der kubanischen Gesellschaft ihre Bewunderung für den Revolutionsführer kundtun. Auffällig ist, dass hier, wie in den Staatsmedien auch, nur von seinem „physischen Verschwinden“ die Rede ist. In diesem Sinn ist das neu geschaffene Centro Fidel Castro Ruz der Ort, an dem sein Geist wieder aufersteht.

Um derartigen Personenkult zu vermeiden, verfügte Fidel Castro per Testament, dass kein öffentlicher Ort und keine Einrichtung in Kuba nach ihm benannt werden dürfe. Doch offenbar glaubten seine Nachfolger nicht, ohne ihn auskommen zu können.

Architekten dürfen nicht als Freiberufler arbeiten

Fünfhundert Meter in Richtung Meer entfernt lässt eine Gruppe junger Architekten und Pädagogen gerade einen verfallenen Kinderspielplatz neu entstehen. Finanziert wird das Mehrgenerationenprojekt von einem engagierten Kioskbesitzer und den Kulturinstituten der Europäischen Union (EUNIC), die in Kuba auf ihre Zulassung warten. Abwasser werden biologisch gereinigt und bewässern Schatten spendende Pflanzenpergolas, bevor sie in die Kanalisation fließen. Solche Ideen wünschte man sich für die leer stehenden Hoteltürme, die in der Pandemiezeit an Havannas Ufern entstanden sind und ihre Abwässer direkt ins Meer leiten.

Doch Architekten dürfen in der sozialistischen Inselrepublik weiterhin nicht als Freiberufler arbeiten, obwohl dort nach offiziellen Schätzungen rund 800 000 Wohnungen fehlen und ein großer Teil der 11 Millionen Einwohner in baufälligen Häusern ausharren muss. Gerade geht ein Foto der Facebookgruppe Nostalgia Cuba 2.0 viral, das Häuserruinen in Althavanna zeigt. Überschrift: „Das ist nicht Kiew…“ !

[Michael M. Thoss arbeitet für das Goethe-Institut in Havanna.]

Trotz erfolgreich begonnener Wirtschaftsreformen will der Staat bei 114 als „strategisch“ eingestuften Tätigkeiten sein Monopol auch weiterhin nicht aus der Hand geben – mit teilweise grotesken Folgen. So erhalten ausgebildete Architekten, die freiberuflich arbeiten wollen, bestenfalls eine staatliche Zulassung als „Festdekorateure“. Diese Lizenz erlaubt es ihnen auch, einen hauptberuflichen Clown einzustellen.