Putins Angriff steht in einer langen Kontinuität von russischen Kriegen
Wir sehen einen Krieg gegen Zivilisten. Wir sehen einen Krieg in Europa, der Wohnhäuser, Schulen, Krankenhäuser zerstört, der die Wasserversorgung in Charkiw kappt, der Männer, Frauen und Kinder in Mariupol im Südwesten der Ukraine, in Irpin nördlich von Kiew, in Sumy im Norden trifft, verletzt und tötet.
Die Bilder dieses Kriegs, den Russland seit über zwei Wochen gegen die Ukraine führt, zeigen, dass es sich nicht mehr nur um eine Auseinandersetzung zwischen der russischen und der ukrainischen Armee handelt. Sondern dass russische Truppen die ukrainische Gesellschaft zum Objekt russischer Kriegführung gemacht haben. Der Strom der Flüchtlinge Richtung Westen, zwei Millionen insgesamt, darunter 60 000 Menschen, die in den vergangenen Tagen vor allem am Berliner Hauptbahnhof ankamen, ist nur eine von vielen Folgen dieses Kriegs gegen Zivilisten.
Doch ist das so neu, wie das Entsetzen des Westens es suggeriert? Lässt sich die Verletzung des humanitären Völkerrechts, dessen Zeuge wir hier werden, wirklich nur als Putins Krieg begreifen? Wären auch militärische Aktionen gegen Atomkraftwerke wie gegen das größte ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja als Umweltkriegsverbrechen erstmalig?
Oder steht der russische Präsident nicht vielmehr in einer Kontinuität von Kriegen, wie Russland sie im 19. und 20. Jahrhundert an den Grenzen seines Reiches meist dann geführt hat, wenn deren Gesellschaften sich der zarischen oder sowjetischen Herrschaft widersetzen?
Ein Krieg von Militärs gegen Militärs
Im Westen führte Russland seinen Krieg von 1831 gegen die polnische Armee. Polen, damals Teil des Zarenreichs, war seit 1815 zu einem Experimentierfeld liberaler Reform am westlichen Rand des Reichs geworden. Anders als im Zentrum Russlands hatten die Polen eine eigene Verfassung, ein eigenes Parlament und sogar ein eigenes Heer. Doch bald geriet das liberale Königreich im Westen in einen inneren Widerspruch zum autokratisch regierten Gesamtreich.
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Am 25. Januar 1831 erklärten die polnischen Abgeordneten in einem beispiellosen Akt den russischen Zaren als Herrscher über Polen für abgesetzt. Ungleicher hätte der Krieg, der nun ausbrach, nicht sein können. 130 000 russische Soldaten rückten nach Polen vor, dessen Armee knapp 30 000 Soldaten zählte. Wochenlang belagerten die Russen Warschau, der Hilferuf des polnischen Parlaments an die europäischen Regierungen verhallte und die Solidarität Europas zeigte sich allein in Ärztekonvois aus Paris nach Warschau.
Doch in diesem russisch-polnischen Krieg und der wochenlangen Belagerung Warschaus war der Krieg Russlands gegen die Polen ein Krieg von Militärs gegen Militärs. Die polnische Zivilbevölkerung blieb weitgehend verschont, das damalige Kriegsrecht gewahrt. Krieg und Frieden waren auch danach klar voneinander abgegrenzte Phasen.
Im Kaukasus kam es zu einem brutalen Langzeitkrieg
Ganz anders sah der Krieg aus, den Russland gleichzeitig im Osten führte. Im Kaukasus kam es zwischen 1830 und 1860 zu einem brutalen Langzeitkrieg gegen die aufständischen muslimischen Milizen, der schließlich die gesamte Zivilbevölkerung der Region einschloss. Vergeblich hatten russische Militärs bereits zwanzig Jahre gegen Tschetschenen und Dagestaner gekämpft, die die Unterordnung unter die imperiale Herrschaft ablehnten und ihren Guerillakrieg gegen das orthodoxe Russland auch als Dschihad gegen die Ungläubigen deuteten.
1845 hatte die russische Regierung über ein Viertel ihrer gesamten Armee, damals die größte der Welt, am Fuß des Kaukasus konzentriert – dort kämpften 200 000 russische Soldaten gegen etwa 40 000 kaukasische Milizsoldaten. Doch auch dieses krasse militärische Ungleichgewicht führte in den Bergen des Kaukasus nicht zum Erfolg. Erst der gezielte Angriff auf die kaukasische Zivilbevölkerung durch eine neuartige ökologische Kriegführung drehte das Blatt.
Der neue russische Gouverneur, der aus Odessa nach Tiflis gekommen war, ließ im Kaukasus Schritt für Schritt riesige Waldstücke roden, was die Tschetschenen immer höher in die Berge trieb. Wald war die zentrale Lebensgrundlage der Bergvölker, die ökologische Strangulierung nahm ihnen nun ihre ökonomische Lebensgrundlage. Doch mit der Kapitulation der Bergvölker 1859 war Russlands Krieg im Kaukasus keinesfalls beendet. Permanente Revolten erschütterten die Region und fließende Übergänge zwischen Aufständen, kleinen Kolonialkriegen und Friedensphasen prägten die Situation vor Ort bis zum Ersten Weltkrieg.
Angriff gegen die eigene Bevölkerung
Neben die Asymmetrie der Gegner, neben den geplanten Angriff auf die Zivilbevölkerung trat im Kaukasus im 19. Jahrhundert ein weiteres Kennzeichen von Russlands Kriegen an seinen Rändern: fließende Übergänge zwischen Krieg und Frieden, wie wir sie seit seit 2014 auch im Donbass beobachten konnten.
Ihre eigene Zivilbevölkerung griff die Sowjetunion als Nachfolgerin des Zarenreichs am mörderischsten im Süden an. Auch diesmal war eine mögliche Abspaltung, diesmal der Ukrainer, das zentrale Motiv für Stalins Politik in den 1930er Jahren. Nationale Kommunisten und ukrainische Bauern erhoben sich 1932 gegen die Zwangskollektivierung und schienen Stalins Kontrolle über die ukrainische Sowjetrepublik zu gefährden. Bauern und Ukrainer sollten dafür bestraft werden. Das Dorf als Verkörperung von beidem wurde zum zentralen Angriffsziel.
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Diesmal war der Hunger das Instrument der Kriegführung. Alle Dörfer mussten einen Getreidezoll abliefern, der ihnen selbst kaum etwas zum Essen übrigließ. Der gesamte Lebensmittelhandel mit der ukrainischen Landbevölkerung wurde eingestellt. Als Hunderttausende von Bauern nach Weißrussland flohen, riegelten sowjetische Truppen die Ukraine militärisch ab, um Flucht zu unterbinden und keine Information über das Sterben nach außen dringen zu lassen. Ende 1933 waren rund fünf bis sechs Millionen Ukrainer durch Aushungerung getötet worden.
Der Begriff „Hungersnot“ durfte erstmals 1987 benutzt werden
Europäische Diplomaten und Journalisten der Zeit kannten die Fakten, aber der sowjetische Hungerkrieg gegen die Ukraine war bis 1990 im Westen wenig bekannt. Wie gelang es der sowjetischen Führung, die Lüge durchzusetzen, es habe keinen Hungerkrieg gegeben? Bereits während des Massensterbens verboten die sowjetischen Behörden den Begriff „Hungertod“ und wer das Wort benutzte, dem drohten fünf Jahre Gefängnis.
Der Begriff „Hungersnot“ durfte erstmals 1987 überhaupt in der sowjetischen Ukraine öffentlich benutzt werden. Zum anderen vernichteten die sowjetischen Behörden die Sterbebücher der Jahre 1932/33, was ein wichtiger Schritt zum Verdecken der Tatsachen war. Der österreichische Schriftsteller Arthur Koestler konnte 1932 noch nach Charkiw reisen und hatte das Lügengebäude durchschaut: „Kein einziges Wort über die örtliche Hungersnot, das Aussterben ganzer Dörfer. Man bekam ein Gefühl traumhafter Unwirklichkeit, die Zeitungen schienen von einem ganz anderen Land zu sprechen, das keinerlei Berührungspunkte mit dem täglichen Leben, das wir führten, hatte, und ebenso verhielt es sich mit dem Rundfunk.“
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Die Wahrheit war im Westen erhältlich, doch kaum war Koestlers Reportage in Deutschland und erste Berichte in der „New York Times“ erschienen, verbot die Moskauer Regierung allen ausländischen Journalisten und Beobachtern den Zugang zur Ukraine. Schließlich war die bewusste Aushungerung der eigenen Bevölkerung im frühen 20. Jahrhundert noch jenseits westlicher Erfahrungen. Überdies galt die Ukraine nicht nur Stalin, sondern auch im Westen nicht als eigenständige Nation, sondern lediglich als integraler Teil Russlands. Diese Einstellung begründete auch die Gleichgültigkeit westlicher Diplomaten gegenüber dem Hungerkrieg der Jahre 1932 bis 1934, ähnlich wie sie in den vergangenen Jahren auch für die Gleichgültigkeit gegenüber dem russischen Krieg in der Ostukraine verantwortlich war.
Im Hungerkrieg gegen die ukrainischen Dörfer zeigte sich das Muster von Russlands Kriegen vielleicht am schärfsten. Der Krieg gegen die Gesellschaften seiner Ränder war immer auch ein Krieg gegen deren Zivilbevölkerung.
Die Ukraine ist keine abhängige Peripherie der Zentralmacht mehr
Ungleiche Gegner, eine Asymmetrie militärischer Macht, fließende Übergänge zwischen Krieg und Frieden, dem Schwächeren die völkerrechtliche Legitimität absprechen, das Verbot von Fakten nach innen wie nach außen und vor allem: die Zivilbevölkerung zum Gegenstand der Kriegführung zu machen. Dieses Muster russischer Kriege an seinen Rändern prägt auch den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine.
[Ulrike von Hirschhausen lehrt Europäische und Globalgeschichte an der Universität Rostock. Demnächst erscheint ihr neues Buch „Empires“ (gemeinsam mit Jörn Leonhard) im Verlag C.H. Beck.]
Aber anders als im 19. und 20. Jahrhundert ist die Ukraine heute keine abhängige Peripherie einer allmächtigen Zentralmacht mehr. Zwar bleibt die militärische Asymmetrie der Gegner groß, doch die kommunikative Deutungsmacht liegt heute eindeutig beim schwächeren Gegner, dessen völkerrechtliche Legitimität weltweit anerkannt ist. Vor allem aber ist der Krieg gegen die Ukraine in wenigen Tagen zum Symbol eines Kriegs gegen Freiheit und Demokratie geworden, den die russische Regierung auch zuhause führt, und damit ein Krieg gegen uns alle geworden.
Der Blick zurück zeigt jedoch, dass wir es hier keineswegs nur mit einem neuartigen Krieg des russischen Präsidenten zu tun haben, wie derzeit gerne konstatiert wird. Der Krieg, der am 24. Februar 2022 begann, ordnet sich ein in eine Kontinuität von Kriegen, wie sie das Zarenreich und die Sowjetunion gegen die Gesellschaften des eigenen Reichs oder angrenzender Regionen immer dann führten, wenn diese die Machtstellung des autokratischen Zentrums zu bedrohen schienen. Es ist nicht nur Putins Krieg. Es ist der Krieg eines autokratischen Systems gegen jene Nachbarn und jene Zivilbevölkerung, die dieses System ablehnen.