Anne Teresa De Keersmaeker trifft Vivaldi: Vier Männer, vier Temperamente

Mit der Konzertperformance „Bark of Millions“, einer Feier der Queerness, startete kürzlich die zweite Ausgabe der Performing Arts Season im Haus der Berliner Festspiele. Als erstes Tanzstück der Reihe wurde „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“ von der Compagnie Rosas präsentiert. Die belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker ist dafür berühmt, dass sie musikalische Strukturen in Tanz übersetzt. Sie setzt sich immer intensiv mit den Kompositionen auseinander.

Gleichwohl überrascht es, dass sie nun mit Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ den größten Barock-Hit ausgewählt hat. Noch mehr überrascht aber, dass die 64-Jährige die Choreografie nicht allein entworfen hat. Für den Vivaldi-Abend hat sie den aus Marokko stammenden, in Brüssel lebenden Choreografen Radouan Mriziga zum Partner erkoren. Er wurde an der Schule P.A.R.T.S. ausgebildet, die De Keersmaeker 1995 gegründet hat. Die Meisterin und ihr Schüler? Wie genau das Arbeitsverhältnis der beiden war, weiß man nicht. Man kann in dem Stück die Handschrift von De Keersmaeker erkennen, es ist aber auch ein Versuch, sich für neue Ausdrucksformen zu öffnen. 

Das zeigt sich schon in der Auswahl der Tänzer. Boštjan Antončič, Lav Crnčević und José Paulo dos Santos kennt man aus früheren Stücken der Rosas. Der Breakdancer Nassim Baddag ist erstmals mit dabei. Vier Männer, vier Temperamente. Nach und nach kommt die Individualität der Performer zum Vorschein – das macht den Reiz der Aufführung aus.

Anne Teresa De Keersmaeker und Radouan Mriziga

© AnneVan Aerschot

Doch das Publikum muss lange warten, bis Vivalds vier Violinkonzerte erklingen. Zunächst sind nur flackernde Neonröhren im Bühnenraum zu sehen. Als wollte die Choreografin uns vor Augen führen, wie sehr wir uns von der Natur entfremdet haben.

Boštjan Antončič eröffnet den Abend mit einem Solo. Er tanzt in der Stille, beschreibt einen Bogen mit dem Arm, zieht ein Knie hoch und kippt nach vorn. Kurz bewegt er die Arme wie Vogelschwingen. In schneller Folge spult er dann Gesten ab, auf die man sich keinen Reim machen kann. Wenn die Musik endlich einsetzt, ist nicht etwa das Thema aus „Primavera“ zu hören, sondern ein kurzer Ausschnitt aus dem zweiten Satz aus „Autunno“. Getragene Klänge, zu denen Antončič zu Boden sinkt. Es ist ein spröder Anfang, betont er doch das Schwere, wo man sich mediterrane Leichtigkeit erhofft.

Nach und nach betreten die anderen drei Tänzer die Bühne. Sie suchen zunächst nach Verbindungen und finden sich zu einem rituellen Reigen zusammen, heben die Arme zu einem V und kreuzen sie vor dem Gesicht. Später legen sie eine amüsante Steptanz-Nummer hin. Dann wieder galoppieren alle vier wie wilde Pferde über die Bühne, vor allem der leichtfüßige Paulo dos Santos verbindet Übermut mit Grazie. 

Bei Lav Crnčević blitzt ein komödiantisches Talent auf. Den Bewegungen verleiht er etwas leicht Exaltiertes. Wenn sich bei den Pirouetten sein rosa Hemdchen zu einer Chiffonwolke bauscht, sieht das entzückend aus. Phänomenal ist Nassim Baddag, der die Spins auf Schultern und Kopf auf einfallsreiche Weise variiert und seinen überaus flexiblen Körper verdreht und verschraubt, als wäre er eine Comicfigur.

Das Primavera-Thema erklingt in der Einspielung von Amandine Beyer und Gli Incogniti besonders frisch. Die vier Tänzer schreiten zuerst eine Acht ab und wirbeln dann in langen Drehsequenzen über die Bühne. Kreise, Spiralen, zyklische Passagen sieht man oft bei den Rosas. Hier aber ist der Zyklus der Jahreszeiten gestört.

Motive wie Säen und Ernten, Schlittschuhlaufen oder Trunkenheit wechseln mit abstrakten Bewegungen ab. Späßchen sind erlaubt; dass das Männerstück dennoch eine emotionale Intensität entwickelt, liegt an den tollen Performern. Die vier verausgaben sich bis zu Erschöpfung und tanzen sich die Seele aus dem Leib.

Es gab Mobbing-Vorwürfe gegen die Star-Choreografin

Anne Teresa de Keersmaeker ist eine Ikone des zeitgenössischen Tanzes. Doch ein Schatten liegt auf der gefeierten Choreografin. Im Juni sah sie sich mit Mobbing-Vorwürfen aus ihrer Compagnie konfrontiert. Die belgische Zeitung „De Standaard“ machte die Anschuldigungen publik. Von einem autoritären Führungsstil und einer toxischen Arbeitsatmosphäre war die Rede.

Die Berliner Festspiele hätten nie erwogen, die Aufführungen zu canceln, sagte eine Pressesprecherin auf Nachfrage des Tagesspiegels. Sie verwies auf ein Statement auf der Website der Compagnie. Auch andere Festivals zeigen weiterhin die Rosas-Stücke – eine richtige Entscheidung. De Keersmaeker hat sich mitlerweile auch geäußert. „Ich möchte mich bei allen Menschen entschuldigen, die ich auf dem Weg enttäuscht und verletzt habe“, sagte sie.

Nach der Vorstellung wirkte sie nachdenklich. Ihr Stück „Exit Above – after the tempest“ wurde bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift „Tanz“ zur Inszenierung des Jahres gewählt. Bezugnehmend auf die aktuelle politische Lage meinte sie: „Ich habe nie solch einen komplizierten Sturm erlebt wie heutzutage. Als Individuen und Communities müssen wir uns hinterfragen.“ Ihr Umgang mit den Tänzern war herzlich. Und mit dem Vivaldi-Abend hat sie erneut beweisen, dass sie eine überragende Künstlerin ist.