Eklat bei Europas wichtigstem Comic-Festival: Auch deutsche Verlage erwägen Angoulême-Boykott

Das Festival International de la Bande Dessinée d’Angoulême (FIBD) gilt als das wichtigste Event der europäischen Comic-Szene, Hunderttausende Besucher werden hier jährlich gezählt. Nun könnte es im kommenden Jahr nicht oder nur in sehr reduzierter Form stattfinden.

Hintergrund des Eklats um das seit 1974 jährlich in Westfrankreich stattfindende Festival ist eine umstrittene Personalentscheidung, die in der Comicszene in den vergangenen Tagen massive Kritik provoziert hat.

Es geht um das Unternehmen 9ᵉArt+, das in den vergangenen Jahren das Festival ausgerichtet hat. Dessen Leiter Franck Bondoux steht seit Anfang dieses Jahres in der Kritik, nachdem in der französischen Presse eine Vielzahl von Missständen aufgedeckt wurde.

Angoulême ist für sein Comicfestival berühmt – und für seine damit korrespondierenden Wandgemälde. Dieses stammt von Comiczeichner Yslaire.

© Lars von Törne

Eine beispiellose Revolte erschüttert die Welt der Comics.

Die französische Tageszeitung „Le Monde“

Dabei geht es unter anderem um undurchsichtige Buchführung, toxisches Management, Verschlechterung des künstlerischen Angebots und Verdacht auf Vetternwirtschaft, wie in französischen Medien sowie der Comic-Fachpresse zu lesen war. Hinzu kam die Entlassung einer Mitarbeiterin, nachdem diese Anzeige wegen einer Vergewaltigung durch einen Kollegen während des Festivals 2024 erstattet hatte. All dies hatte in den vergangenen Monaten zu wiederholten Protesten und Boykottaufrufen aus der Comicszene geführt.

Das Internationale Comic-Festival von Angoulême, eines der berühmtesten der Welt, sei in „lebensgefährlicher Lage“, warnten 20 Grand-Prix-Gewinner. Hier eine Szene vom 52. Festival im Jahr 2025.

© AFP/ROMAIN PERROCHEAU

Der im kommenden Jahr auslaufende Vertrag für 9ᵉArt+ könnte demnach theoretisch für weitere neun Jahre verlängert werden. Allerdings scheint es kaum denkbar, dass die beiden infrage kommenden Gruppen tatsächlich zusammen ein Konzept einreichen, da sie sehr unterschiedliche Ideen bezüglich der Zukunft des Festivals haben. „Seitdem erschüttert eine beispiellose Revolte die Welt der Comics“, schreibt die Tageszeitung „Le Monde“.

Massiver Protest gegen 9ᵉArt+ und dessen Geschäftsführer kommt von zwei für das Festival besonders wichtigen Gruppen, die im Comicland Frankreich eine große kulturelle Relevanz haben: den Verlagen sowie den Zeichnerinnen und Zeichnern.

Mehrere namhafte Comic-Verlage drohen jetzt mit dem Boykott des Festivals, dessen nächste Ausgabe vom 29. Januar bis 1. Februar 2026 stattfinden soll. Sie fordern, dass das Unternehmen 9ᵉArt+ von der Ausschreibung für die Organisation der Veranstaltung ausgeschlossen werden soll. Dies teilten sie den lokalen Behörden laut „Le Monde“ am Montag in einer Videokonferenz mit.

Nach Angaben des US-amerikanischen Fachmagazins „ComicsBeat“ haben sich bislang mehr als 40 Verlage von der nächsten Ausgabe des Festivals zurückgezogen: „Das Festival, das über drei Marktplätze in riesigen Pavillons in der ganzen Stadt verfügt, die Mainstream-, Alternative- und Manga-Geschmäcker bedienen, verzeichnet Stornierungen von Ständen auf breiter Front.“

Dies führe dazu, dass der auf alternative Comics spezialisierte Bereich „Nouveau Monde“ Schwierigkeiten habe, seine große Fläche zu füllen. Und der beim Massenpublikum besonders populäre Bereich „Manga City“ mit Manga und ostasiatischen Comics sei unter anderem durch den Rückzug des französischen Manga-Verlags Ki-oon, der dort populäre Serien wie „My Hero Academia“ und „Jujutsu Kaisen“ veröffentlicht, „drastisch geschrumpft“.

Eine Wandbemalung in Angoulême mit Lucky Luke von Zeichner Morris.

© Lars von Törne

Angoulême sei in den vergangenen Jahren „ein Festival der Inspirationen und Entdeckungen, mit hochkarätigen Ausstellungen und Events zu Comics aus aller Welt“ gewesen. „Den Protest und die aktuellen Absagen von Künstler:innen und Verlagen für die 2026er-Ausgabe können wir sehr gut nachvollziehen“, sagt Schwarz. „Unter den jetzigen Voraussetzungen möchten wir nicht am Festival teilnehmen. Wir beobachten und warten die Entwicklungen der nächsten Tage ab.“

Sollte es bei der Vorgabe bleiben, dass 9ᵉArt+ ohne weitere Beanstandung die Leitung für die nächsten neun Jahre innehat, werden auch wir nicht nach Angoulême reisen.

Dirk Rehm, Leiter des Reprodukt-Verlags in Berlin

Aus Berlin ist ähnliches zu hören. „Fast alle französischen Künstler:innen, die wir auf Deutsch veröffentlichen, haben ihre Teilnahme abgesagt, weil sie mit der Politik des Festivals und Missständen bei 9ᵉArt+ nicht einverstanden sind“, sagt Dirk Rehm, Gründer und Leiter des Berliner Reprodukt-Verlags, dem Tagesspiegel. „Die Vorwürfe gegenüber dem Leiter des Festivals und 9ᵉArt+ scheinen gerechtfertigt, soweit ich das aus mündlichen Berichten und der französischen Presse nachvollziehen kann, und deren Fehlverhalten sollte natürlich Konsequenzen haben.“

Die französische Autorin Anouk Ricard posiert nach der Verleihung des „Grand Prix“ während des 52. Internationalen Comic-Festivals in Angoulême am 29. Januar 2025. Sie ist eine der Unterzeichnerinnen des offenen Briefes gegen die aktuelle Festivalleitung.

© AFP/ROMAIN PERROCHEAU

Während die Aufrufe zum Boykott der Veranstaltung zunehmen, „häufen sich beim Festival Skandale, Kommunikationsfehler und mangelnder Ehrgeiz, und das alles bei völliger Undurchsichtigkeit der Verwaltung“, kritisieren die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner.

Die Liste umfasst neben Anouk Richard, der Gewinnerin des Großen Preises von Angoulême im vergangenen Jahr, und dem amerikanischen „Maus“-Schöpfer Art Spiegelman zahlreiche weit über Frankreich hinaus bekannte Comic-Größen. Unter ihnen Régis Loisel, Charles Berbérian, François Boucq, Chris Ware, Jacques Tardi, François Schuiten, Baru, Blutch, Lewis Trondheim, Riad Sattouf, Hermann Huppen, Posy Simmonds und Julie Doucet.

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In den vergangenen Jahren hatte es immer wieder Vorwürfe gegen die Festivalleitung und ihr Agieren bei sensiblen Themen gegeben. Dazu zählen eine umstrittene und letztlich abgesagte Ausstellung von Szene-Star Bastien Vivès, dem Kritiker die Verharmlosung von Pädophilie und Vergewaltigung vorwarfen, sowie Sexismus-Vorwürfe wegen einer nur aus Männern bestehende Grand-Prix-Liste 2016.