Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (93): Wenn nur Asche bleibt von einer Wohnung

8.12.2022
Der Zug ist halbleer, in meinem Wagen sind weder Leute im Flur noch Schlangen vor der Toilette zu sehen – bei der ukrainischen Bahn bin ich das Gegenteil gewöhnt. Zum ersten Mal seit dem Beginn des großen Krieges fahre ich nach Charkiw und bin außer mir vor Aufregung – im Gegensatz zur Dame, mit der ich das Vierer-Abteil teile.

Sie hat ihre Tochter in Polen besucht, erzählt sie, nun kehrt sie zurück, für sie passiert gerade nichts außergewöhnliches. Sie ruft ihren Mann an, um mitzuteilen, dass unser Zug Lwiw rechtzeitig verlassen hat. 

In den letzten Wochen kommt es bei der Bahn zu mehrstündigen Verspätungen, habe ich gelesen. Während der Beschüsse von Orten entlang der Strecke bleiben die Züge stehen. Sollte es uns passieren, habe ich vorgesorgt und reichlich Knabberzeug eingekauft – Datteln, Nüsse, Schokowaffeln. Alles aufzuessen schaffe ich aber nicht, weil wir Charkiw doch rechtzeitig erreichen, kurz nach 10 steige ich am Hauptbahnhof der Heimatstadt aus. Es ist kalt, die Sonne scheint, Tania Pylypchuk vom Literaturmuseum holt mich ab. 

Das Aurora Hotel, in dem ich in den kommenden Tagen übernachten soll, liegt sehr zentral, in der Alchevskich Straße. Im menschenleeren, sparsam beleuchteten Foyer empfängt mich die fröhliche Anna, sie strahlt und alles, was sie im alltäglichen Ton sagt, klingt ganz natürlich – solange man darüber nicht nachdenkt.

Die Bar ist links, die Treppe rechts, das Frühstück wird von 7 bis 10 im zweiten Stock serviert, mein Zimmer ist im dritten, der Fahrstuhl geht leider nicht (zu gefährlich). Heizung und warmes Wasser sind da, der Schutzbunker ist im Keller, wenn das Licht an ist, sollten die Vorhänge bitte zu sein, der Strom wird täglich zwischen 11 und 13 Uhr ausgeschaltet. Das heißt, ich sollte mich beeilen, wenn ich mein Handy aufladen möchte, es ist bereits 10:45 Uhr. 

Für nur drei Tage bin ich hier, morgen und übermorgen spiele ich Konzerte mit Serhij Zhadan, davor werden wir sicherlich proben müssen, viel Zeit bleibt mir also nicht. Ich schreibe Maxim Rozenfeld an, wir verabreden uns im Cafe Pakufuda. Mein Weg dorthin führt durch die Svobody Straße, hier bleibe ich vor dem halbzerstörten Haus meines Onkels stehen, es fühlt sich anders an, das mit eigenen Augen zu sehen, genauso wie das Verwaltungsgebäude wenige Meter weiter, am Freiheitsplatz – und ist nach wie vor unfassbar, unglaublich, irreal.

Von russischen Bomben zerstörtes Haus in Charkiw.
Von russischen Bomben zerstörtes Haus in Charkiw.
© Yuriy Gurzhy

Beim Überqueren des Platzes höre ich die Sirene, aber niemand von den Passanten scheint darauf zu reagieren, alle laufen einfach weiter. 

Was für eine Freude, Maxim wiederzusehen! Er hat abgenommen und seinen Bart wachsen lassen, ansonsten hat er sich kaum verändert – ein Energiebündel, ein in seine Heimatstadt verliebter Optimist, der stets Witze macht und laut lacht. Wie ein Magnet wirkt er, wir haben unseren Kaffee noch nicht bekommen, und schon versammeln sich Menschen um unseren Tisch. 

Maxim fragt, ob ich schon im Nordsaltivka war, und als ich verneine, meint er, ich müsste unbedingt dorthin, am besten sofort! Einen Anruf und zehn Minuten später sitzen wir im Auto von Sergey Belozerov, dem Musiker der Band Morj, von dem ich bei meinen letzten Charkiw-Besuchen oft gehört, ihn aber nie getroffen habe. Wir sind zu sechst und es ist sehr eng, aber Maxim wollte auch seine Kiewer Freunde mitnehmen. Aus den Boxen kommt leise Musik von den Beatles.

Was uns im Saltivka erwartet, erinnert an apokalyptische Comics, an Katastrophenfilme. Es mag das Schrecklichste sein, was ich je gesehen habe. Im Frühling wurde hier so heftig bombardiert, dass kaum ein Haus verschont blieb. Die meisten Bewohner haben Nordsaltivka damals verlassen. Wir gehen in ein Haus rein, schauen uns in einer Wohnung im zweiten Stock um. Von allem, was hier stand, ist nur Asche geblieben – und ein Paar Hanteln. Es mag das Schrecklichste sein, was ich je gesehen habe.    

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