Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (67): Auf dem linken Auge blind
17. 9. 2022
Obwohl ich bereits 1995 nach Deutschland gezogen bin, fand meine erste Begegnung mit den hiesigen Antifaschisten viel später statt – und zwar im März 2014, als ich mit anderen Berliner Künstler*innen und Aktivist*innen im Studio des GorkiTheaters einen Soli-Abend für die Familien der Opfer des Kiewer Maidan organisierte. Zwei Tage zuvor wurde in mehreren Facebook-Gruppen folgender Aufruf verbreitet: „Freunde, das ist Nazi-Propaganda von ukrainischen Benderas (sic!), welche für Hitler stimmen. Nazis haben kein Wort in Berlin!“ Trotz des furchterregenden Versprechens haben wir uns am Abend der Veranstaltung dann aber doch nicht persönlich kennengelernt.
Was damals aber wie ein ganz schlechter Witz rüberkam, erwies sich in den weiteren Jahren des russischen Krieges in der Ukraine leider als ein wiederkehrendes Motiv, manchmal mit leichten Variationen. Hin und wieder höre ich von Antifa-Gruppen, die in den ukrainischen Künstler*innen Nazis zu erkennen glauben. Vergangene Woche reichte eine E-Mail von der Waterkant-Antifa an das Hamburger Bürgerhaus Wilhelmsburg für die kurzfristige Absage eines Konzertes von Oleg Skrypka.
Klassenbewusster Antifaschismus gegen den ukrainischen Freiheitskampf
Skrypka ist einer der wichtigsten ukrainischen Musiker, er veranstaltete unter anderem zwischen 2004 und 2017 das größte Weltmusikfestival der Ukraine, Krajina Mrij. Auf seiner aktuellen Tour sammelt er Spenden für ukrainische Kinder, die am schlimmsten unter dem Krieg leiden. Unter dem ersten Link in der Waterkant-Antifa-Mail war sein Interview zu finden, das er im März der rechten Zeitung „Junge Freiheit“ gegeben hat – unbestreitbar eine schlechte Entscheidung des Musikers, der jedoch, nehme ich an, keinen Berater an seiner Seite hatte.
Die anderen drei Links belegen lediglich die Ignoranz der Waterkant-Antifa, deren Anliegen laut einem Facebook-Post darin besteht, „den klassenbewussten Antifaschismus in Norddeutschland voranzubringen und aus der Komfortzone der linken Szene auszubrechen“. Anscheinend gehört der Kampf gegen ukrainische Musiker neuerdings auch dazu.
Mir fällt es schwer, weiterzulesen. Ich brauche eine Pause und rufe meinen Freund Oleg Sosnow an, der am Tag zuvor mit französischen Journalisten aus Kiew nach Charkiw gereist ist. Er meint, die Zahl der Autos auf den Straßen habe zugenommen im Vergleich zum letzten Besuch vor zwei Monaten. „Im gleichen Hotel wohnen auch die Amerikaner vom ,Wall Street Journal‘ … die ganze Welt scheint hier zu sein“, berichtet er. Doch meine Heimatstadt ist heute nicht die Endstation für Oleg, sein Ziel sind Isjum sowie andere Städte und Dörfer im Gebiet Charkiw, das letzte Woche von den russischen Besatzern befreit wurde.
Wie schon im Fall von Butscha und Irpin gibt es auch dort so viele grausame Geschichten, die erzählt werden müssen; manche haben es schon in die Nachrichten geschafft, die anderen werden es noch. Es wurden Massengräber mit Hunderten von Leichen gefunden, dort begraben sind überwiegend Frauen und Kinder. Oft werden auf ihren Körpern Folterspuren entdeckt. Meine Musikerkollegin Dasha, die vor sechs Monaten aus Charkiw geflohen ist, postet auf Facebook neue Fotos vom Hund ihrer Großeltern aus dem Dorf Tsupivka: Die russen haben ihm auf der Nase ein Z eingeritzt.
Um die Welt ging ein Foto von dem Hand eines namenlosen Toten aus Isjum mit einem billigen gelb-blauen Armband … Die Welt schaut zu, die Brutalität russischer Okkupanten macht uns alle fassungslos. Aber wenn ich auf der Facebook-Seite der Waterkant-Antifa nach einem Zeichen der Solidarität mit dem ukrainischen Volk suche, werde ich nicht fündig. Dafür sieht man da Bilder, auf denen die Antifaschist:innen mit sowjetischen Fahnen durch Hamburg marschieren. Die Fotos sind vom Mai 2022.
Eine gewisse bittere Ironie ist da nicht zu übersehen. Alle erkennen die wahren Faschisten, nur die deutschen Antifaschisten nicht. Darüber lachen kann ich aber trotzdem nicht.
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