Kolumne Schlamasseltov: Dystopische Gegenwart

Wie schreibt man in solchen Zeiten eine Kolumne? In Zeiten absoluter Eskalation, wo Belanglosigkeiten grotesk und unangebracht wirken und mir eigentlich nichts anderes übrig bleibt, als Woche für Woche zu schreiben, wie schrecklich alles ist, wie sehr mich die Situation auffrisst?

Es gibt eine Monotonie im Schrecklichen und so ist das Furchtbare kein Dauerbrenner für eine Leser*innenschaft, die entertaint werden möchte. Ich befinde mich also in einem Dilemma: Leid bis zur Übersättigung? Oft scheint es mir, als wäre der Schritt von der Sensibilisierung zur Desensibilisierung nur ein einzelner Klagelaut über das Maß der Faszination hinaus. Oder besser kontextlose Nichtigkeiten, um das Leidkonto nicht zu überziehen? Geplänkel, das sich stattdessen aber wie respektlose Ohrfeigen ins eigene Gesicht anfühlen. Maßregelung für mich und alle, die gerade länger leiden, als es unterhaltsam wäre.

Wir kennen das alles schon

Das ist nicht reiner Zynismus. Es ist Resignation, die in mir aufkommt, wenn ich schlotternd eine Zigarette nach der anderen auf meinem Balkon ins graue Berlin hinein rauche und das Internet anstarre. In Russland werden Flugzeuge mit Israelis angegriffen, in Berlin Türen und Klingeln mit Davidsternen markiert. Selbst darin steckt eine gewisse Ernüchterung: Wir kennen das alles schon. Die Wut und die Angst sind alte Gefährten.

Wir haben unterschiedliche Strategien, um in dieser Erkenntnis nicht den Verstand zu verlieren. Vielleicht verlieren wir ihn auch gerade. Vielleicht ist das okay. Vielleicht haben alle anderen ihn schon vor langer Zeit verloren. Ich suche nach Worten, mitten in der Dystopie, und alles, was ich sehen kann, sind meine Geschwister. Wie sie versuchen, Menschlichkeit in Köpfe und Herzen zu schreien, anderen die Ignoranz aus den Gliedern zu rütteln. Oder ich erahne ihre Silhouetten in den Fluten: unter Tränen noch mitten im ersten Krieg, im zweiten nun vollends ertrinkend. Ukraine und Israel: Gibt es noch Jüd*innen in diesem Land ohne gebrochene Herzen?

Und dann gibt es jene, die ich gar nicht mehr sehe, um sie sorge ich mich am meisten. Wo auch immer ihr seid, ich küsse eure Herzen und hoffe, dass sie noch schlagen. Meins schwebt in Nikotinschwaden durch Berlin.