Dänemark erlebt bei der EM ein Fußballmärchen

Der dänische Musiker Michael Bruun ist erst im Mai gestorben, nur wenige Wochen vor dem Beginn der EM. Auch, wenn der Tod eines Menschen immer zur Unzeit kommt, war das Timing in diesem Fall irgendwie besonders traurig. Denn Bruun hat damit einen Sommer verpasst, in dem sein wohl berühmtestes Lied so richtig zum Song der Stunde wurde.

Der Fußball-Hit „Re-Sepp-Ten“ hat Bruun zur WM 1986 geschrieben, zum Höhepunkt des großen „Danish Dynamite“-Teams vom deutschen Trainer Sepp Piontek. Mehr als 30 Jahre später schallt das Lied immer noch von den Rängen. Nach dem Drama um Christian Eriksen am Anfang dieser EM wirken die Worte des Refrains – „Wir sind rot, wir sind weiß, wir stehen zusammen, Seite an Seite“ – nicht mehr kitschig, sondern wie das entschlossene Versprechen einer traumatisierten Nation.

Doch es gibt auch andere gute Zeilen im Lied von Bruun. In der ersten Strophe singt Frank Arnesen etwa vom hässlichen jungen Entlein und vom standhaften Zinnsoldaten. In der zweiten wird Hans Christian Andersen sogar beim Namen genannt. Nach einem Fußball-Märchen sehnten die Dänen nämlich schon immer. Und in diesem Sommer bekommen sie es.

Die heutige Version vom „Danish Dynamite“ besiegte Tschechien mit 2:1. Sie setzte damit einen Lauf fort, der nicht nur von fußballerischer Klasse, sondern auch von erstaunlichem menschlichen Charakter zeugt. Genau drei Wochen, nachdem ihr Teamkollegen auf dem Platz um sein Leben kämpfte, zogen die Dänen ins EM-Halbfinale ein.

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen und Ereignisse rund um die Europameisterschaft live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Dass sie dabei vom Glück oder vom Fußballgott gesegnet wurden, konnte ihnen wohl auch der bitterste tschechische Fan nicht übelnehmen. Glück hatten sie aber mehrfach, etwa beim ersten Tor, das aus einer Ecke entstanden ist, die eigentlich keine war. Oder kurz vor der Halbzeitpause, als Joakim Maehle vom Platz humpelte, und alle dänischen Fans das Schlimmste befürchteten. Maehle wäre ein schwerer Verlust gewesen. Einer der Ausnahmespieler bei diesem Turnier, er hatte kurz zuvor mit einer sehenswerten Außenristflanke das zweite Tor der Dänen eingeleitet.

Die psychologische Bürde verteilt

Wie viele Mannschaften bei diesem Turnier haben die Dänen vor allem wegen ihrer kollektiven Stärke gewonnen. Die Brillanz von Maehle oder Mikkel Damsgaard wird erst durch die Erfahrung eines Thomas Delaney oder Pierre-Emil Højbjerg ermöglicht. Die Mischung aus Kontrolle im Mittelfeld und Dynamik nach vorne ist der Verdienst von Trainer Kasper Hjulmand, der es geschafft hat, der Auswahl eine klare Spielidee zu vermitteln. Auch deshalb waren die Hoffnungen schon vor dem Turnier groß.

Es ist vor allem der Kampf- und Teamgeist, der im Kontext des Sommers so erstaunlich istFoto: dpa/ Dan Mullan

Doch es ist vor allem der Kampf- und Teamgeist, der im Kontext des Sommers so erstaunlich ist. Sie haben es geschafft, die psychologische und physische Bürde des Turniers auf allen Schultern zu verteilen, sodass es immer einen anderen Spieler gibt, der auf dem Platz zum Anführer wird. Gegen Tschechien war es der Leipziger Yussuf Poulsen, der seine Mannschaft als Einwechselspieler durch eine schwierige zweite Halbzeit brachte. Als die Tschechen immer näher an den Ausgleich kamen, bangten die Dänen um ihr Märchen. Bis zum Schluss.

[Lesen Sie hier alle wichtigen Entwicklungen der EM im Tagesspiegel-Liveblog]

Das kleine Dänemark steht zum ersten Mal seit 1992 im EM-Halbfinale. Zum ersten Mal also, seit dem letzten dänischen EM-Wunder. Damals hatte sich das Team von Richard Møller-Nielsen nicht einmal für die EM qualifiziert, durfte nur wegen des späten Ausschlusses von Jugoslawien nachreisen. In Schweden spielten sie dann ohne ihren besten Spieler Michael Laudrup, und haben trotzdem den Titel gewonnen. Im Finale gegen Deutschland traf nicht nur der sonst torallergische John Jensen, sondern auch Kim Vilfort, dessen junge Tochter zu Hause mit Krebs kämpfte.

Wer hätte damals gedacht, dass man 30 Jahre später das wohl größte Märchen der EM-Geschichte vielleicht sogar noch toppen könnte?