England ist jetzt Titelfavorit – trifft aber auf den gefährlichsten Gegner
Die Trikots waren zwar weiß, und die Hosen dunkelblau. Auf der Brust standen zwar die drei Löwen, und auf dem Rücken die roten Nummern in einer Schriftart, die an David Beckham, Michael Owen und Paul Gascoigne erinnerte. Aber es konnte nicht England sein, das die Ukraine am Samstag problemlos aus dem Weg räumte und ins EM-Halbfinale segelte. Denn so effizient, so kontrolliert, so klinisch spielt England einfach nicht.
Auch die britischen Medien waren am Samstagabend erstaunt. Als würde sich die Mannschaft in einem Paralleluniversum befinden, beschrieb der „Guardian“ die gnadenlose Leistung der Engländer. „Das ist wie Therapie“, murmelte der BBC-Kommentator Guy Mowbray, als die Spieler zehn Minuten vor Schlusspfiff in einem EM-Viertelfinale den Ball wie auf dem Trainingsplatz zirkulieren ließen und die Partie völlig sorglos zu Ende spielten. Nach dem Schlusspfiff staunte Moderator Gary Lineker über einen „stressfreien Abend“.
Denn so etwas hat es für die englische Nationalmannschaft seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht mehr gegeben. Auch die besten englischen Teams spielten manchmal wild, hatten Glück oder wackelten irgendwann unter dem ständig riesigen Druck. Die Spieler von Gareth Southgate wirken hingegen so kühl wie der englische Sommer. Als ob sie den Druck einfach nicht spüren, als ob sie wirklich daran glauben, Favorit zu sein. Sie wirken wie Bayern München, Real Madrid oder Juventus. Sie wirken aber auf keinen Fall wie England.
„Wir haben jetzt mehr Erfahrung als vor drei Jahren“, sagte der Kapitän und zweifacher Torschütze Harry Kane nach dem Spiel. „Viele von uns haben große Spiele mit unseren Klubs erlebt, wie etwa im Champions-League-Finale oder im Rennen um den Premier-League-Titel. Das war heute eine große Leistung in einem großen Spiel, ein perfekter Abend für uns.“
Entschlossen und hochkonzentriert
Tatsächlich wird England zunehmend perfektionistisch. In fünf Spielen bisher haben sie immer noch kein einziges Tor kassiert. Als Torwart Jordan Pickford am Samstag beim Stand von 4:0 einen kleinen Fehler machte, der ohne Folgen blieb, ärgerte er sich sichtlich. In fast jeder Aktion agierte die Mannschaft entschlossen und hochkonzentriert. Auch den Verlauf des Spiels haben sie mit der frühen Führung und den beiden Toren nach der Halbzeitpause perfekt verwaltet.
Diese Kontrolle zeichnet die Mannschaft durch das gesamte Turnier aus. In der Vorrunde wurden sie für ihre etwas zurückhaltenden Leistungen kritisiert, doch im Nachhinein haben sie alles richtig gemacht. Nach ihrem Minimalismus in der Gruppenphase schalten sie jetzt zum genau richtigen Zeitpunkt einen Gang höher. Dabei hilft es, dass Southgate auch ständig situativ umgestellt hat und die gesamte Breite und Tiefe seines stark besetzten Kaders nutzen konnte. In den bisher fünf Spielen hat England nie zweimal mit derselben Startelf gespielt. Am Samstag wurde Jadon Sancho der 17. Engländer, der bei dieser EM von Beginn an spielen durfte.
„Der Kader ist so wichtig“, sagte Southgate. „Wir wissen, dass es über sieben Spiele wichtig ist, dem einen oder anderen im richtigen Moment eine Atempause zu gönnen.“ Auch das sei etwas, das er als Trainer dazugelernt habe. Was die Belastungssteuerung angeht, habe man von der WM 2018 sehr viel gelernt. So hat man bei der EM selten den Eindruck, dass England eine erste und eine zweite Elf hätte. Vielmehr gibt es nur eine eingespielte Mannschaft, die der Trainer je nach Bedarf und Belieben jederzeit umstellen kann.
Wie entfesselt
Und jetzt kommen die Engländer erst richtig ins Rollen. Neben der Effizienz und der Kontrolle gibt es nun auch Momente der Freude und Fantasie, wenn England nach vorne stürmt. Das dritte Tor gegen die Ukraine leitete Raheem Sterling grandios mit der Hacke ein, wenig später kam Kane mit einem berauschenden Volley beinahe zum Dreierpack. Nicht nur er, sondern die ganze Mannschaft wirkt nun wie entfesselt.
Doch bei allem Spielwitz bleibt Englands Stärke in erster Linie die humorlose Effizienz. „Die Art und Weise des Sieges zeigt, was für einen Fortschritt wir gemacht haben“, sagte Harry Maguire der BBC und warnte gleichzeitig wieder vor Arroganz. Denn im Halbfinale treffen die Engländer in Dänemark auf eine Mannschaft, die aktuell so furchtlos und gefährlich attackiert wie keiner ihrer bisherigen Gegner.
Am Mittwoch müssen sie noch einmal den Fokus auf den Tag legen, den sie in den vergangenen Wochen immer und immer wieder gezeigt haben. „Diese Mannschaft wird sich nicht mit einem Halbfinale zufriedengeben“, sagte der Innenverteidiger Maguire, und klang dabei trotz seines Sheffielder Zungenschlags schon wieder nicht wie ein Engländer.