„Turandot“ in Amsterdam: Barrie Kosky inszeniert Puccini
Es beginnt mit einem Wispern im Dunklen. Ferne Stimmen reden dem Fremden ein, er möge seine Frage an Turandot stellen. Langsam schält sich ein hermetisch geschlossener Spiegelraum aus dem Nichts, der Chor liegt wie tot auf dem Boden. Dann lässt Dirigent Lorenzo Viotti die ersten Fanfaren von Giacomo Puccini Märchenoper „Turandot“ erklingen. Scharf, schnell und brutal setzt er mit dem Nederlands Philharmonisch Orkest den Ton für diesen düsteren Alptraum einer wankelmütigen Menge im Blutrausch.
Die Arme schnellen nach oben, genau choreographierte Bewegungen definieren das schneidige Kollektiv, das endlich die Hinrichtung des glücklosen Prinzen sehen möchte, der dem geflüsterten Rat einst Folge leistete und die Prinzessin herausforderte. Viotti setzt die musikalischen Stimmungsumschwünge scharf voneinander ab, der Lichtdesigner Alessandro Carletti lässt die Spiegelwände magisch schimmern, wenn rätselhaft glitzernde Kunstfiguren den Mond beschwören. Immer wieder öffnet der Regisseur Barrie Kosky gemeinsam mit seiner Kostümbildnerin Victoria Behr das abstrakte Bewegungsrepertoire für magische Momente einer verstörenden Traumrealität.
Prinzessin Turandot ist den ganzen Abend über nicht zu sehen
Die eisumgürtete Prinzessin ist für den Regisseur bloß eine kollektive Einbildung, der brutalen Masse, mit der das Volk seine hemmungslosen Gewaltphantasien begründet. Sie ist nicht zu sehen während dieses todesverliebten Nachtstücks in der Amsterdamer Oper, nur ihre Stimme schwebt geheimnisvoll über dem Bühnenbild von Michael Levine. Turandots imaginierter Wille ist die Ausrede, wenn Menschen gefoltert und hingerichtet werden, wenn die Minister Ping, Pang und Pong von einem Leben in einer ländlichen Idylle träumen, das leider nicht möglich sei.
In der Realität manipulieren die drei mit einem geschmückten Skelett die Menge, inszenieren einen Todeskult, der das freie Leben unter Berufung auf jahrtausendealte Traditionen unmöglich macht. Eher zufällig schält sich aus der anonymen Masse der Protagonist Calaf heraus. Er hat einfach das Pech, sich zu sehr in die Ideologie von Abenteuer und Todesnähe hinzusteigern. Die Eigendynamik einer gesellschaftlichen Stimmung ergreift von ihm Besitz.
In Giacomo Puccinis letzter Oper „Turandot“ aus dem Jahr 1924 steckt sehr viel faschistische Ästhetik. Zwei Jahre zuvor hatte Mussolini mit dem erst nachträglich heroisierten „Marsch auf Rom“ die Herrschaft an sich gerissen und schnell ein Schreckensregime errichtet. Die Brutalität dieses Zeitgeists spiegelt sich auch in der schieren Lautstärke von Puccinis Orchestersprache. Immer wieder lässt Viotti das Orchester groß auftrumpfen, treibt die Überwältigungsklänge ins Extrem, behält aber den Klang und die musikalische Struktur immer im Blick.
Die Spiegelungen auf der Bühne finden ihre Entsprechung in der delikaten Abstimmung von Puccinis Orchestrierungskunst. Diese Partitur schmeichelt und vergewaltigt, hat bezaubernde Momente und möchte den Zuhörer gleich danach bewusstlos in den Sitz drücken. Wie schon in der „Tosca“ korrespondieren die Sichtweisen des Regisseurs und des Dirigenten ideal. Auch Kosky will das Publikum einwickeln mit einer beinahe kitschigen Kerzeninszenierung zum Tenorhit „Nessun dorma“, den der ansonsten eher unausgeglichen singende Najmiddin Mavlyanov überzeugend gestaltet.
Maden kriechen aus dem monströsen Totenkopf
Dann lässt er während des großen Rätselduetts von Turandot und Calaf widerliche Maden aus einem monströsen Totenkopf gleiten. Angstlust beherrscht die Bühne, wenn die scheinbar fröhlichen Minister ihrem Todeskult mexikanischer Prägung frönen. Tamara Wilson singt die unsichtbare Prinzessin von der Beleuchterbrücke im Zuschauerraum, so ist ihre Stimme gleichzeitig präsent und verstörend ortlos, an den richtigen Stellen schneidend, dann wieder schmeichelnd, aber immer gefährlich.
Kosky und Viotti haben sich entschieden, die Aufführung dort enden zu lassen, wo der Komponist einst die Arbeit an der Partitur abbrach. Die gequälte Liù stirbt und das Volk fühlt plötzlich Reue für seine Skrupellosigkeit. Kristina Mkhitaryan hat schon vorher als einzige Figur auf der Bühne große Wärme und Mitmenschlichkeit ausgestrahlt, ihr Tod wird zu einem Moment der Erkenntnis sowohl der Schwäche Calafs, der sie nicht schützen konnte, als auch eines letzten Ausbruchs der Massenhysterie.
Der exzellente Chor der Amsterdamer Oper ist der eigentliche Protagonist dieser Aufführung, vom Summen bis zur klangvollen Ektase singt er präzise, diszipliniert ohne jegliche Ermüdungserscheinung. Die präzise Choreographie von Otto Pichler absolviert er, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Eine Aufführung, in der die ganz Monstrosität von Puccinis unvollendeter Oper über das Publikum hereinbricht und überwältigt zurücklässt. Der Abend endet mit demselben tonlosen Wispern, mit dem er begonnen hat: „Turandot existiert nicht.“ Aber sie ist in uns.
Zur Startseite