Werkschau der Comic-Künstlerin Anna Haifisch: Auf der Spur scheuen Vogelwesen

Als sie die E-Mail aus New York öffnete, so schildert es die Künstlerin Anna Haifisch, bekam sie „beinahe einen Herzinfarkt“. Das renommierte „Vice“-Magazin wollte die bis dahin kaum bekannte Leipziger Comiczeichnerin und Illustratorin für eine wöchentliche Serie gewinnen. Nach dem ersten Schock und einer mehrere Tage lang erfolglosen Suche nach einem passenden Thema besann sie sich damals, 2016, auf ihre eigenen Erfahrungen als „zittriger, erfolgloser Vogelkünstler“, wie sie sagt – und nahm den Auftrag an.

Es war die Geburtsstunde der Kunstfigur„The Artist“, und der internationale Durchbruch von Anna Haifisch, die mit ihren fragil gezeichneten, kräftig kolorierten und zutiefst menschlichen Tierfiguren inzwischen zu den erfolgreichsten deutschen Vertreterinnen ihrer Branche gehört. Jetzt wird die 1986 geborene Künstlerin mit ihrer bislang größten Einzelausstellung geehrt, an diesem Donnerstag eröffnet im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe die Schau mit dem Titel „Bis hierhin lief’s noch ganz gut“.

Ein Siebdruck mit der Figur „The Artist“.

© MK&G © Anna Haifisch

„The Artist“ ist ein mit dem Leben und der Kunst haderndes Mensch-Vogel-Mischwesen, das in kurzen, Tragik und Komik verbindenden Comic-Episoden und Einzelbildern zwischen Depression und Größenwahn schwankt. Nach der Veröffentlichung bei „Vice“ erschienen die insgesamt 46 Episoden auch auf Deutsch.

Haifischs bislang erfolgreichste Figur, so kann man jetzt in Hamburg erfahren, wurde neben dem eigenen Künstlerdasein auch durch eine Serie des kroatischen Konzeptkünstlers Mladen Stilinovic inspiriert: Dessen Fotoserie mit dem Titel „The Artist at Work“, die Anna Haifisch im Kunststudium kennenlernte, zeigt einen im Bett liegenden Mann, der ähnlich lethargisch wirkt wie „The Artist“ in seinen schwermütigen Phasen.

„Blutlache weiter unten“: Eine von rund 170 Originalzeichnungen von Anna Haifisch im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg.

© Lars von Törne

Das ist eine der Besonderheiten der Hamburger Ausstellung im Vergleich zu bisherigen musealen Präsentationen von Anna Haifischs Werk in New York, Leipzig, Straßburg oder Paris: Dank umfangreicher an den Museumswänden präsentierter Kommentare der Künstlerin zu den rund 300 Exponaten gewährt „Bis hierhin lief’s noch ganz gut“ so anschauliche und umfangreiche Einblicke in ihr Werk und dessen Kontext wie keine andere Schau zuvor.

„Die Ausstellung zeigt, auf welch humorvolle, reflektierte, intelligente und vielfältige Weise Anna Haifisch arbeitet“, sagt Museumsdirektorin Tulga Beyerle am Mittwoch beim Presserundgang durch die rund 400 Quadratmeter großen Ausstellungsräume. Tatsächlich bekommt man als Besucher den Eindruck, als schaue man der Künstlerin im Atelier über die Schulter: Das Setting im ersten von zwei Ausstellungsräumen mit dem Titel „Der Lauf der Dinge“ ist Anna Haifischs Arbeitszimmer nachempfunden, wie Museums-Kurator Simon Klingler erläutert.

Dutzende mit fragilem, kratzigem Strich ausgeführte Skizzen und Tuschezeichungen liegen auf Arbeitstischen in der Mitte des ersten Museumssaals unter Glas, man sieht mit Bleistift ergänzte Korrekturhinweise und Anmerkungen („Blutlache weiter unten“). So kann man chronologisch den Schaffensprozess der Künstlerin der vergangenen zehn Jahre nachverfolgen. Dieser umfasst neben freien Arbeiten regelmäßig auch Auftragswerke für renommierte Medien wie „Die Zeit“, „Der Spiegel“ oder „The New Yorker“. Auf einem dieser Arbeitstische findet sich auch eine Zeichnung für den Tagesspiegel, die Anna Haifisch 2022 zum 100. Geburtstag ihres Idols Charles M. Schulz („Peanuts“) angefertigt hat.

Daneben laden Haifischs Bücher, für die ihre Zeichnungen in der Regel digital koloriert wurden, zum Lesen ein: Neben zwei „Artist“-Sammelbänden auch die aus mehreren Einzelveröffentlichungen zusammengestellte Kurzgeschichten-Sammlung „Schappi“ und der in Skizzen-Optik gezeichnete Lockdown-Comic „Residenz Fahrenbühl“, in dem zwei exzentrisch-fragile Mäuse-Künstler in der Einsamkeit eines Landhauses auf eine existenzielle Probe gestellt werden.

Handtücher, Decken, Schalen: Die Ausstellung zeigt auch Designprodukte, die Anna Haifisch gestaltet hat.

© Henning Rogge / MK&G

Dazu kommen zahlreiche Design-Produkte, die Haifisch gestaltet hat, darunter Decken, Schals, Handtücher und zuletzt eine Serie von Schalen für die Berliner Porzellan-Manufaktur KPM, die mit filigranen Hunde-Zeichnungen verziert wurden.

An den Stirnseiten des Saals finden sich Zitate, Hintergrundinformationen und ergänzende Bilder, die den Kontext der Werke und auch die Biografie der Künstlerin erhellen. Das ist besonders da interessant, wo sie Einblicke in ihren Werdegang oder bestimmte Arbeitstechniken gibt, die auch Fans so detailliert bislang nicht bekannt sein durften.

So erfährt man, dass Anna Haifisch sich 2011 nach dem Abschluss des Kunststudiums ihr Geld verdiente, indem sie in eine Bärenkostüm schlüpfte und Werbung für die Ladenkette „Build a Bear“ machte – ein Job, der sie einerseits fast in die Verzweiflung trieb, wie sie berichtet, andererseits aber auch die Inspiration zu ihrem ersten Buch „Von Spatz“ bescherte. Das spielt in einer kalifornischen Nervenheilanstalt, zu deren Klienten von Haifisch verehrte Künstler wie Walt Disney, Tomi Ungerer und Saul Steinberg gehören, die natürlich allesamt ebenfalls in Tiergestalt auftreten.

Anna Haifisch bei der Führung durch ihre Ausstellung.

© Lars von Törne

Bezüge zu den Vereinigten Staaten und vor allem zur amerikanischen Populärkultur sind seit ihrem ersten Stipendien-Aufenthalt in Oregon vor zehn Jahren ein fester Bezugspunkt in Haifischs Werk. „Ich liebe Amerika, aber es beschert mir immer auch einen Kulturschock“, sagt die Künstlerin bei der Vorstellung ihrer neueren Arbeiten, die den zweiten Raum füllen und für Kenner ihres bisherigen Werks die größte Neuentdeckung darstellen dürften.

Die Gestaltung ihrer Ausstellung hat Anna Haifisch zusammen mit Anja Kaiser (links) entwickelt, rechts Museumskurator Simon Klingler.

© Lars von Törne

Eine der hohen Museumswände ist gefüllt mit einem Tableau von 46 gerahmten Buntstiftzeichnungen in Postergröße, die im Rahmen einer dreimonatigen Künstlerresidenz in der Villa Aurora im Westen von Los Angeles entstanden sind, wo Haifisch Ende 2022 zu Gast war. Unter dem Titel „Ready America“ kombiniert die Künstlerin hier paarweise Impressionen aus dem, wie sie es nennt, „Land des Überflusses und der Existenzangst“.

Das Ergebnis ist eine auch typografisch wild gemischte Roadtrip-Collage: Werbetafeln und Gebäudefassaden, Hinweisschilder und Popkultur-Ikonen, Speisekarten und Warnschilder. „Ein wunderschöner Eintopf aus Eleganz und Irrsinn“, wie Anna Haifisch es zusammenfasst. Die Sammlung erscheint dieser Tage auch beim Kasseler Verlag Rotopol als Buch.

Anna Haifisch vor zwei Seiten ihres neuen Werks „Billbirds“.

© Lars von Törne

Für die aus drei großen Siebdrucken bestehende jüngste Arbeit mit dem Titel „Billbirds“, die speziell für diese Ausstellung geschaffen wurde, hat Anna Haifisch die Ästhetik der amerikanischen Billboard-Werbeflächen mit ihrem Hang zu Funny-Animal-Comics kombiniert. Dieses Pop-Art-Triptychon hat sie zusammen mit der Grafikdesignerin Anja Kaiser geschaffen, mit der sie sich in Leipzig ein Atelier teilt und die gemeinsam mit der Künstlerin in Hamburg auch die sehr gelungene Ausstellungsstruktur gestaltet hat.

Ihr Beitrag „Deadpanning the Ordinary“ ist eine knallbunte sequenzielle Hommage an amerikanische Wegbereiter des Grafikdesigns und der postmodernen Architektur. Das zweite Bild ist ein illustriertes Haiku über eine kleine Maus im Schatten einer riesigen Werbetafel, das zentrale Motive aus Haifischs Werk aufgreift. Das dritte Bild mit dem Titel „Lost“ ist eine Collage von Vogel-Charakteren aus Haifischs Universum im visuellen Dialog mit dem „Roadrunner“, einer Zeichentrickfigur aus dem Animationsklassiker „Looney Tunes“.

Auf die Spuren des realen Vorbilds für dieses Cartoon-Tier, das auf Deutsch Rennkuckuck heißt, haben sich Anna Haifisch und Anja Kaiser im Sommer 2023 bei einem gemeinsamen Roadtrip durch die US-Bundesstaaten Nevada und New Mexico begeben. Davon zeugen weitere, Dokumentarisches mit Cartoon-Elementen verbindende Tusche- und Buntstift-Zeichnungen an einer Museumswand. In künstlerischer Hinsicht war der Roadtrip offensichtlich eine weitere ergiebige USA-Reise für Anna Haifisch – nur einen echten Roadrunner bekam sie dabei kein einziges Mal zu Gesicht.