Ilona Hartmann, Janna Steenfatt, Nora Gantenbrink: Halb hier, halb da
Es klingt verheißungsvoll, was die Lektorin von Ilona Hartmann über den Debütroman ihres Schützlings gesagt hat. Dieser sei so etwas wie die – in der Regel von eher älteren Menschen bevorzugte, schon seit ewigen Zeiten laufende – ZDF–Serie „Traumschiff“ für die Generation Instagram, „ein funkelndes Roadmovie auf dem Wasser“.
Nun gehören sich solche Lobeshymnen aus Sicht eines Verlags, sonst würde er das Buch ja nicht veröffentlichen, erst recht, wenn ein Branchenmagazin wie der „Buchreport“ fragt und die Autorin vorstellt. Bemerkenswerter ist die hier bemühte „Generation Instagram“, weil Generationskonstruktionen nicht erst seit der Coronakrise doch aus der Mode gekommen sind: Wer soll das denn sein, die Generation Instagram? Die ganze Welt?
Im Fall von Ilona Hartmann liegt diese Beschreibung allerdings nahe. Hartmann, die 1990 im Schwäbischen geboren wurde, ist via Twitter und Instagram mit typisch kurzen Einträgen zum Zeitgeschehen zu einem Star geworden, sie hat eine riesige Anzahl von Followerinnen und Abonnenten.
Solche Berühmtheit lockt natürlich Verlage an. Hartmann antwortete in dem „Buchreport“-Steckbrief freimütig auf die Frage, wie sie zu ihrem Buch gekommen sei: „Sehr klassisch für das 21. Jahrhundert – meine spätere Lektorin schrieb mir eine Nachricht auf Instagram.“
Nun würde man erwarten, dass Hartmann mit „Land in Sicht“, wie ihr Roman heißt (Blumenbar Verlag, Berlin 2020. 160 S., 18 €.) , zumindest annähernd so etwas wie eine Generationenfibel geschrieben hat, einen Poproman neuen Zuschnitts. Über ihr Leben im Internet, auf Instagram und Twitter, womöglich unter der Prämisse: Social Media hat meinem Leben einen ersten Sinn gegeben.
Hartmann beschreibt das Leben auf einem Kreuzfahrtschiff
Doch dem ist nicht so, sieht man von einer prägnant-pointierten Sprache und ein paar Listen ab. Hartmann Romansujet ist ein klassisches. Sie erzählt, wie eine junge Frau ihren Vater, den sie nie kennengelernt hat, sucht. Genauer: Wie sie ihn schon gefunden hat und nun mit ihrer Existenz konfrontieren will.
Diese Geschichte sei an ihrem Leben entlang geschrieben, hat Ilona Hartmann im Interview mit dem Tagesspiegel bekannt. Auch ihr Vater ist kurz vor ihrer Geburt verschwunden, auch sie nahm mit diesem dann in ihren mittleren Zwanzigern auf eigene Initiative den Kontakt auf.
Der Romanvater, Milan, ist Kapitän auf einem Flusskreuzschiff, dem Donau-Dampfer MS Mozart. Jana Bühler, wie Hartmanns Ich-Erzählerin heißt, bucht sich auf diesem Schiff zu einer einwöchigen Fahrt von Passau nach Wien und zurück ein: „Was lange undenkbar war, wurde im Laufe weniger Monate plötzlich zur dringenden Idee. Ich muss meinen Vater kennenlernen, sagte ich mir, sonst bleibe ich vielleicht für immer nur halb – halb ich, halb da, halb am Leben. Diese Furcht überstieg die Vorstellung, einem Fremden zu begegnen, der mein Vater war, sich aber nicht vertraut anfühlte.“
Hartmann schildert wie ihre Jana Bühler sich zunächst vor der Offenbarung drückt. Sie sieht ihren Vater zwar, lernt ihn kennen als Kapitän, redet mit ihm, sagt aber vorerst nicht, dass sie seine Tochter ist.
Stattdessen beschreibt sie das Flusskreuzfahrtschiffsleben oder macht sich Gedanken über das Alter ihrer Mitreisenden, naturgemäß ist Jana auf dem Schiff bei weitem die Jüngste. Und sie erinnert sich an ihr bisheriges, ja noch nicht langes, ergiebiges Leben, ihrem Wechsel von irgendwo im Süden des Landes nach Berlin. Geprägt ist Janas Gegenwart von einer gewissen Ziellosigkeit, einem Sich-überall-Fremd-Fühlen: „Die ersten Jahre im eigenen Leben fühlten sich an, wie freihändig auf dem Fahrrad bergab fahren.“
Man kann da auf den Gedanken kommen, dass hier jemand verzweifelt auf der Suche nach einer Identität ist; dass das Aufspüren des fehlenden Vaters einer ersehnten Entwicklung, einer Erziehung des Herzens auf die Sprünge helfen soll. Doch man ahnt früh, dass das späte Bekenntnis „Ich bin deine Tochter, übrigens“ wenig fruchtet.
Auch Bov Bjerg und Christian Baron arbeiteten sich an ihren Vätern ab
Woraus Hartmann keine große Sache macht. Auf tiefer gehende Psychologisierungen verzichtet sie. Das macht ihren etwas dürr wirkenden, manchmal schön schlank auf den Punkt gebrachten Roman nicht unsympathisch. Ein Spruch muss reichen, etwa auf die Frage einer Kreuzworträtsel lösenden Mitreisenden, die ein anderes Wort für Jugend mit vier Buchstaben sucht und von Jana die Antwort bekommt: „Trauma“.
Ilona Hartmann verweigert sich zwar einer Generationsinspektion, steht aber in diesem Sommer mit ihrem Romanstoff nicht allein da. Anfang des Jahres waren es Autoren wie Bov Bjerg und Christian Baron, die sich in ihren Romanen „Serpentinen“ und „Ein Mann seiner Klasse“ an den Vätern abarbeiteten und darüber schrieben, wie sie, wie ihre Helden einerseits den Herkunftsmilieus entkamen, andererseits diese Herkunft sie immer wieder einholt.
Jetzt sind es junge Autorinnen, die sich in ihren Debüt-Romanen fragen: Woher komme ich? Hat ein nicht existenter Vater, das Aufwachsen bei nur einem Elternteil, der Mutter, mein Leben, meinen Charakter entscheidend beeinflusst? War ich nur halb, bleibe ich halb? Weshalb sie allesamt ihre Erzählerinnen auf die Suche nach dem Vater schicken.
Neben Hartmann sind das die 1982 in Hamburg geborene Janna Steenfatt mit einem Roman, der den vielsagenden Titel „Die Überflüssigkeit der Dinge“ trägt. (Hoffmann & Campe, Hamburg 2020. 240 S., 20 €). Und die „Stern“-Reporterin Nora Gantenbrink, die 1986 geboren wurde und im Ruhrgebiet aufwuchs. Gantenbrink hat ihr literarisches Debüt gleich ohne Umschweife einfach „Dad“ genannt. (Rowohlt 100 Augen, Hamburg 2020. 240 S., 20 €.)
Anders als die auf ihren Vater, ihre Herkunft und das Setting der Donaukreuzfahrt konzentrierte Hartmann versuchen sich Steenfatt und Gantenbrink an größeren, genaueren Porträts ihrer vaterlos aufgewachsenen Hauptfiguren.
Bei ihnen spielen auch Liebesbeziehungen und Freundschaften, gleichermaßen seltsame, nicht als solche erkannte oder plötzlich auftretende, eine Rolle. Oder eine Kindheit in der Provinz irgendwo zwischen Düsseldorf und Dortmund, wie bei Gantenbrink; ein rastloses Leben als Tochter einer Schauspielerin, die wegen wechselnder Theaterengagements oft die Stadt wechseln muss, wie bei Janna Steenfatt.
„Ich selbst hatte kein Leben, das hätte weitergeben können“
Steenfatts Ich-Erzählerin Ina nimmt den Suizid ihrer Mutter zum Anlass, sich endlich in die Spur ihres Vaters zu begeben, des Theaterregisseurs Wolfram von Eschenbach. „Ich wartete, ich wusste nicht worauf. Einen Grund. Als wäre nicht schon alles Grund genug. (…) Heimlich hatte ich die Hoffnung, dass mein Vater sich eines Tages melden würde.“
Als dieser in Hamburg, wo sie lebt, eine Regiearbeit übernimmt, beginnt sie einen Kellnerinnenjob in der Theaterkantine, um eine Begegnung herbeizuführen.
Es ist dann die Frau, in die sie sich verliebt, die ihm sagt, dass Ina seine Tochter ist, und er erklärt, warum er aus ihrem Leben verschwand. Was die Angelegenheit nicht leichter macht: „Ich konnte das Gefühl, das in mir aufstieg, schwer greifen. Etwas zog mich zu Wolf hin und stieß mich gleichzeitig ab. Die absurde Banalität des Ganzen; dass jemand ein paarmal fragte, ob er sein Kind sehen dürfe, und dann nicht mehr und dann nie wieder.“
Inas Abwehr durchzieht Steenfatts gesamten, passagenweise intensiven, poetisch dichten Roman. Man hat nicht den Eindruck, dass das Kennenlernen des Vaters ihr zu entscheidenden Einsichten verhilft, sie womöglich davon abbringt zu sagen: „Ich selbst hatte kein Leben, das hätte weitergehen können“.
Auch Nora Gantenbrinks Ich-Erzählerin Marlene kommt irgendwann zu dem Punkt, an dem sie erkennt, dass ihre Vatersuche, die Suche nach der Wahrheit über ihren Erzeuger erfolglos sein wird: „Mein Vater und ich, (…), wir hätten keine Hoffnung auf ein spätes Wiederfinden gehabt. Selbst auf diesen Reisen entwischt er mir immer wieder.“
Marlene ist ohne ihn aufgewachsen, weil er ständig auf Reisen war, ein die Drogen liebender Hippie. Erst als er an Aids erkrankt, da ist sie 18 Jahre alt, erlebt sie ihn bewusst, im Krankenhaus, bis zu seinem Tod. Was für sie danach kommt, ist ähnlich diffus- ziellos wie bei Hartmanns Jana. Marlene geht nach Hamburg, schlägt sich als „mittelmäßige Musikjournalistin“ durch, betrinkt sich in Kneipen und schläft mit Männern, „die ihr nichts bedeuten, nur damit ihr niemand weh tun kann, also wirklich.“
Das lässt sich als Selbstschutz interpretieren, als klassische Reaktion auf ein frühes Verlassenwerden. Im zweiten Romanteil von „Dad“ wiederholt Gantenbrinks Heldin die Reisen ihres Vaters nach Marokko, Indien und Thailand, ohne hier oder bei den Gesprächen mit seinen alten Bekannten zu entscheidenden Erkenntnissen zu kommen. Was sie sicher weiß: Dass er nie um etwas gekämpft hatte, nicht um sein Leben, seine Träume, „nicht um meine Mutter, nicht um seine Ehe nicht um mich.“
Ist die Generation Instagram, wer immer sie nun repräsentiert, eine vaterlose Generation? Zumindest dürfte es für die Generation der Dreißigjährigen und jünger, die mit den sozialen Medien aufwächst oder aufgewachsen ist, nichts Ungewöhnliches sein, aus broken homes zu kommen, mal bei der Mutter, mal beim Vater zu leben, nolens volens das Patchworkfamilienmodell gut zu kennen.
Die abwesenden Väter bleiben fremd
Das Bedürfnis, sich seiner selbst, seiner Herkunft zu versichern, zu wissen, woher man stammt, das Erbe ans Licht zu holen, wie das Annie Ernaux in ihrem Vaterbuch „Der Platz“ als Motivation bezeichnet, dieses Bedürfnis ist jedoch auch im Zeitalter von Twitter, Instagram und Co ein dringendes, notwendiges. Dass die abwesenden Väter fremd bleiben, sich eine Nähe spät nur schwer herstellen lässt, ist nur folgerichtig in diesen Debütromanen.
„Wer arbeiten will“, so formulierte es der dänische Philosoph Sören Kierkegaard schön lakonisch, „gebiert sich seinen eigenen Vater.“ Das könnte der Antrieb von Hartmann, Steenfatt und Gantenbrink gewesen sein; sie haben vor dem Hintergrund des fehlenden Elternteils ihre literarische Autorinnenschaft ausgebildet und, wie es Nora Gantenbrink in ihrem Epilog schreibt, die Geschichte ihrer Väter „bis in die Buchläden getragen“.
Für irgendwas müssen Väter, die sich aus dem Staub gemacht haben, ja gut sein.