Unbekannte wirken wie Verwandte
17. bis 19. Juni 2022
Als deutscher Musiker und DJ war ich in den letzten zwanzig Jahren schon in den Goethe Instituten in Boston, Rom, Paris und Prag. Im November 2021 probten wir „Songs For Babyn Yar“ in den Räumen des Goethe Instituts in London, wenige Wochen später präsentierte das Goethe Institut Kiew unsere Performance in der ukrainischen Hauptstadt.
Seltsam, ich habe noch nie das Goethe Institut in Berlin Mitte besucht – bis zum letzten Donnerstag, als ich eingeladen war, an einem Gespräch mit einer internationalen Fortbildungsgruppe teilzunehmen, die sich eine Woche lang mit dem Thema Kultur auseinandersetzt.
Klezmermusikerin Daria floh von Charkiw nach Hamburg
Wir hatten ausgemacht, dass ich den Teilnehmer*innen etwas über mein Buch und auch über die Erfahrungen als Berliner Musiker erzähle. Wir kamen jedoch bei unserer Unterhaltung immer wieder auf die Ukraine zurück. Am Tisch direkt gegenüber von mir saßen drei Frauen, die genau wie alle anderen im Raum Deutsch sprachen, jedoch sah man sofort, dass sie das Thema persönlicher als alle anderen nahmen.
Es stellte sich heraus, dass sie aus der Ukraine kamen und wir redeten noch lange, als die anderen in die Mittagspause gegangen waren. Bei ganz vielen Ukrainern heute – auch wenn ich sie zum ersten Mal sehe – habe ich das Gefühl, Verwandte getroffen zu haben.
Am Wochenende bin ich wieder in Erfurt, wo am Sonntag das finale Konzert unseres Projektes „Alte Steine, Neue Töne“ stattfinden soll. Wir haben die Ehre, es beim New Jewish Music Festival zu präsentieren – eine große Freude, aber auch eine Verantwortung. Der tolle Proberaum bei der My Music Company ist riesig, allerdings wird er schnell warm. Der Sommer ist endlich da, die Temperaturen steigen, wie auch die Spannung – unsere Besetzung ist zum ersten Mal komplett, und wir sind viele. Beim Festival dürfen wir nur 50 Minuten spielen, wir proben unsere Stücke und reden darüber, was wir auf der Bühne noch unbedingt erzählen wollen.
Auch Lesik Omodada ist wieder dabei, unser ukrainischer Kollege, der seit drei Wochen auf mit seiner Band einer europäischen Tour ist, um Geld für seine Stiftung Musicians Defend Ukraine zu sammeln. Auch wenn es bei diesem Projekt um die jüdische Geschichte Erfurts geht, kann ich mir nicht vorstellen, bei unserem Auftritt über die Ukraine und den Krieg zu schweigen. Aber was sollte man sagen und was nicht? Wir diskutieren, und wie es heutzutage beim Austausch mit meinen Landsleuten so ist, gibt es auch bei uns einen spontanen historischen Rückblick zu den russisch-ukrainischen Beziehungen.
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Am Sonntag ist es in Erfurt so heiß, dass wir uns kaum aus dem Backstage-Bereich trauen. Aber ich will unbedingt den Auftritt von Craig Judelmans Klezmer Kompanye anschauen. Heute teilt sie sich die Bühne auch mit Bob Cohen, einer Legende der Klezmerszene, sowie der jungen Flötistin Daria Fomina.
Wir haben uns im April in Berlin kennengelernt, sie musste aus unserer Heimatstadt Charkiw fliehen und hat eine Bleibe in Hamburg gefunden. Eine Charkiwer Klezmermusikerin, auf der Flucht von den russischen Denazifikatoren! Von ihrem Vater Gennadiy Fomin, dem Klarinettisten der Charkiw Klezmer Band, habe ich auch schon viel gehört.
Als die verschwitzen Mitglieder der Klezmer Kompanye im Catering-Bereich auftauchen, grüßen Daria und ich uns, wir lachen – sieh mal, zwei Charkiwer auf einem jüdischen Musikfestival in Erfurt! Ich stelle ihr Lesik vor. Aus eigener Tourerfahrung kenne ich Musikergespräche in- und auswendig, früher ging es meistens darum, wer mit wem gespielt und getrunken hat und was man schon alles auf Tour in der USA oder Japan erleben durfte.
Heute ist es anders, Daria erzählt, wie sie auf dem Konzert vorgestern in Berlin 300 Euro Spenden sammeln konnte, um davon Funkgeräte für die ukrainische Armee zu kaufen – und Lesik berichtet von Musicians Defend Ukraine und seinen Kollegen, die gerade ein Auto für die Front in Estland abholen, gestern hat er es von dem Geld bezahlt, das seine Band gerade mit den Konzerten verdient hatte.
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