Empathie als Motor
Draußen Demo, drinnen Kunst. Ginge das auch umgekehrt? Solvej Helweg Ovesen, Kuratorin der Galerie Wedding im Untergeschoss des Rathauses in der Müllerstraße 146-147, versucht sich darin. Mit ihrem einjährigem Ausstellungsprojekt „Existing otherwise“ verkehrt sie die Verhältnisse – und das aus gutem Grund. „Wie können wir anders wachsen?“, fragt sie.
„Wie uns inspiriert und inspirierend an den Wandel der Welt lokal anpassen?“ Die dänische Kuratorin, die lange mit Bonaventure Soh Bejeng Ndikung im Silent Green zusammenarbeitete und 2017 das Konzept für den Dänischen Pavillon auf der Biennale in Venedig mitentwickelte, hat eins aus der Pandemie gelernt: Sie muss nach draußen gehen und sich mit anderen vernetzen.
Vormittags Behörde, nachmittags Kunst
Da wäre der Rathausvorplatz gleich nebenan, für den sie mit Isabel Lewis ein Performanceprogramm plant. Oder das 2020 eröffnete Studiohaus Callie’s unweit in der Lindower Straße, in dem die Tänzerin und Choreografin ihr Atelier hat.
Oder das Savannah Centre for Contemporary Art in Ghana, das von dem Documenta-Künstler Ibrahim Nahama unterhalten wird, der seit seinem daad-Stipendium in Berlin einen Wohnsitz hat. Solvej Ovesen will die Galerie Wedding im Laufe von „Existing Otherwise“ mit vielen Adressen verbinden.
Doch zunächst fängt sie in den eigenen vier Wänden an. Die Galerieleiterin übt darin bereits seit vergangenem Jahr eine neue Form der Koexistenz, seit sie im Rahmen des bezirklichen Pandemieplans ihren Ausstellungsraum mit dem Sozialamt teilen muss. Vormittags Behörde, nachmittags Kunst – davon zeugen schwere Schreibtische mit Trennscheiben aus Plexiglas.
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Ausweichmöglichkeit ist das Schaufenster zur Müllerstraße hin. Darin stellt Emily Hunt ihre Liebeserklärung an den Wedding aus, in dem sie seit 2017 lebt. Die australische Künstlerin präsentiert hier bis zum 29. Mai bunte Keramikskulpturen: Figuren, zu denen sie Kieztypen inspirierten, oder sogenannte Kraftringe, mit denen sie der Deutschen Bank, einem vergessenen Friedhof, dem Mini-Kaufhaus, der Kneipe „Winzling“ und dem Nettelbeckplatz ein ungewöhnliches Denkmal setzt.
Die Australierin hat ein Herz für die Auslagen von Brillengeschäften und Juwelierläden der Müllerstraße, sie spürt das Kosmische der Flaktürme vom Humboldthain und erkennt im Müll vor ihrem Haus, der sich magisch immer wieder ansammelt, gar Land-art. Mit Hunt durch den Wedding spazieren zu gehen, ist ein Augenöffner, ihre Technik nennt sich Psychogeografie.
Forschungszentrum für Bewegung
Für Passanten gibt es zum Mitnehmen am Galerieeingang kostenlos einen hinreißenden Stadtplan, auf dessen Vorderseite die Künstlerin ihre Lieblingsorte schreiend bunt porträtiert hat und auf dessen Rückseite sie deren besondere Poesie erklärt.
Empathie ist auch der Motor für Isabel Lewis Projekte. Auf diese Weise hat sie das Format „Hosted Occasions“ entwickelt, mit denen sie bereits in die Kunsthalle Zürich, die Tate Modern, zum Steirischen Herbst und Tanz im August eingeladen war. Lewis kreiert Räume, holt Menschen herein, fordert sie auf, ihr eigenes Sensorium zu entfalten.
In der Galerie Wedding hat die vor zehn Jahren aus den USA nach Berlin gewechselte Tänzerin im Rahmen von „Existing Otherwise“ ein Forschungszentrum für Bewegung eingerichtet, sogar Matten liegen aus, um sich praktisch auszuprobieren. Für ihre Performance im August auf dem benachbarten Rathausplatz läuft bis 17. Mai der Open Call. Rausgehen, Tanzen, Kommunizieren – der Wedding lädt ein, trotz Pandemie und anderen Miseren.