Fortschrittliche Politik braucht große Worte

Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer.

Der Unterschied zwischen einem vermurksten und einem perfekten Satz kann marginal sein, ein Wort zu viel dort, während hier jedes sitzt. Und manchmal ist der Unterschied brachial.

Vermurkst: „Die Nervosität ist groß derzeit.“ So begann am Freitag der Wirtschaftsaufmacher der „Süddeutschen Zeitung“, und mit weniger Freude wurde vermutlich selten ein erster Satz geschrieben; kein pfiffiges Wort, dafür ein amerikanischer Satzbau, och nö. „Bitte neu, und bitte ein Gedanke“ hätte auf dem zurückgesendeten Manuskript stehen können.

Perfekt: „Joe Biden better Build Better or he won’t be Back.“ Das schrieb Maureen Dowd in der „New York Times“, und intelligenter kann ein Satz kaum sein. Dieser spielt mit Joe Bidens Infrastrukturplan „Build Back Better“, zugleich jongliert er mit Bidens wirrem Agieren im Weißen Haus: ein Leitartikel in zehn Worten.

Ich kam auf die Suche nach dem perfekten Satz, als ich mich gestern fragte, welche Sätze dereinst wohl von der neuen Bundesregierung geblieben sein werden. Angela Merkel sagte „Wir schaffen das“ und später: „Es ist ernst, nehmen Sie es auch ernst.“ Adenauer sagte „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“ und obendrein: „Wir leben alle unter demselben Himmel, aber wir haben nicht alle denselben Horizont.“ Joschka Fischer: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.“ Als er das sagte, regierte er noch nicht.

„Die Schwierigkeit ist das Problem“

Es gibt Sätze, die Fragment blieben und deshalb perfekt sind: „Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“, sagte Hans-Dietrich Genscher am 30.9.1989 in Prag. Mitunter auch, öfter, liegt die Perfektion im unfreiwillig Absurden (bis Tragischen): „Die Schwierigkeit ist das Problem“, so Helmut Kohl; „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, so Walter Ulbricht (zwei Wochen vor Mauerbau); „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe N***“, so Heinrich Lübke in Liberia; „Ich hatte keine sexuelle Beziehung mit dieser Frau“, so Bill Clinton.

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Über perfekte Wörter, Sätze und Texte haben wir an dieser Stelle vor einem Jahr schon einmal gesprochen. Unsere fünf Regeln für Meistersätze lauten: 1. Ein perfekter Satz klingt und schwingt und ist kein Wort zu lang. 2. Meist passt die klassische Struktur Subjekt-Prädikat-Objekt. 3. Aber der perfekte Satz darf nicht wie andere Sätze sein, er soll sich verhaken und nachhallen. 4. Lassen wir’s leben und knallen, darum brauchen wir Verben. (Enorm hilfreich übrigens, dass das neue Word-Textprogramm die Formulierung „Ich kam übrigens“, oben, violett unterstreicht und den Auftrag „Vermeiden Sie Füllwörter“ darunter pappt.) 5. Das Wichtigste ist, was wir sagen wollen und welche Worte darum unseren Satz füllen.

Kein perfekter Satz ist von der neuen Bundesregierung bekannt, sie ist noch jung; allerdings auch ambitioniert. Und mindestens solche Sätze sollten ihr Ziel sein: „Mister President, tear down this Wall“ (Ronald Reagan). „Ich bin ein Berliner“ (John F. Kennedy). „I have a Dream“ (Martin Luther King).

Lesen hilft, lernen lässt sich vor allem von ersten Sätzen. Es gibt keine Schriftstellerin, keinen Schriftsteller, die nicht immer wieder zum ersten Satz des Textes zurückkehren, umstellen, verwerfen, von vorn beginnen, weil der erste Satz uns Lesende einfangen und süchtig machen soll. „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“, so beginnt Kafka „Die Verwandlung“. Und nun, Herr Bundeskanzler, kommen Sie.