Mehr Respekt für Adam und Eva

Wann immer der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in der Klemme steckt, greift er zu seinem bewährten Rezept: Er treibt die Spaltung der Gesellschaft voran und stellt sich und seine Anhänger als Opfer dar. Neuen Schwung hat er derzeit nötig, denn er bekommt die galoppierende Inflation in der Türkei nicht in den Griff. Um den Kulturkampf zwischen religiösen und säkularen Türken anzufachen, kritisierte der Staatschef vergangene Woche ein fünf Jahre altes Lied der Popsängerin Sezen Aksu als Angriff auf religiöse Werte und stellte die Künstlerin an den Pranger. Erdoğan drohte, er werde der Sängerin „die Zunge herausreißen“. Doch diesmal hat er sich vergaloppiert: Der Präsident musste seine Worte zurücknehmen.

Die 67-jährige Aksu ist die Königin der türkischen Popmusik. Als Sängerin und Songschreiberin ist sie in ihrem Land seit Jahrzehnten unerreicht; einem deutschen Publikum wurde sie im Jahr 2005 durch den Musikfilm „Crossing the Bridge“ des Regisseurs Fatih Akin bekannt. Aksu hat Millionenhits für andere türkische Stars wie Tarkan geschrieben und mit ihren Liedern ganze Generationen geprägt.

Als Neujahrsgruß an ihre Fans präsentierte Aksu vor vier Wochen auf ihrem YouTube-Kanal das Lied „Şahane Bir Şey Yaşamak“ („Es ist wunderbar, am Leben zu sein“) aus dem Jahr 2017. Obwohl das Lied fünf Jahre lang niemanden störte, fühlten sich türkische Islamisten plötzlich von einer Songzeile beleidigt: „Mit schönem Gruß an die Dummköpfe Adam und Eva.“

Über Nacht wurde Aksu zur Hassfigur, denn Adam wird im Islam als Prophet verehrt. Ein Anwalt in Ankara reichte Strafanzeige wegen religiöser Volksverhetzung gegen sie ein, vor ihrem Haus in Istanbul demonstrierte eine islamisch-nationalistische Gruppe. Die türkische Religionsbehörde verurteilte einen „Mangel an Respekt“ für Adam und Eva. Die Rundfunkaufsichtsbehörde RTÜK kündigte an, sie werde alle Musiksender bestrafen, die Aksus Lied spielen. Erdozan setzte sich an die Spitze der Kritiker.

Die Debatte schwappte bis nach Deutschland

Sezen Aksu ließ sich nicht einschüchtern. Sie schreibe seit fast 50 Jahren und werde das auch weiter tun, erklärte sie und präsentierte ein neues Lied, das sie zu dem Anlass geschrieben habe. „Du kannst mich nicht umbringen, ich habe meine Stimme, mein Instrument und meine Sprache – ich stehe für uns alle“, heißt es im Text. Mehr als 200 Künstler:innen stellten sich in einer Solidaritätserklärung hinter Aksu.

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Auch der Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk und der Komponist und Pianist Fazıl Say wiesen die Angriffe gegen die Sängerin zurück. Die Debatte schwappte bis nach Deutschland: Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir kommentierte auf Twitter, Erdoğan spiele „das alte Spiel von autoritären Regimen, wenn sie mal wieder unter Druck stehen: Kriege beginnen, gegen Minderheiten hetzen oder Menschen zur Zielscheibe erklären“.

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Der Streit passt Erdoğan zwar ins Konzept. Seit Wochen versucht er, seine islamischen Anhänger gegen nicht-religiöse Teile der Gesellschaft aufzubringen. Nach einem Pitbull-Angriff auf ein junges Mädchen sagte er, diese Art von Hunden werde von säkularen Türken gehalten. Bei einer anderen Gelegenheit verurteilte er westliche Kunst, die „Perversität, Unmoral und Randgruppen normalisieren“ wolle. Der Präsident weiß aus Erfahrung, dass er über eine verschärfte gesellschaftliche Polarisierung zum Erfolg kommen kann. Nach einer Wahlniederlage im Jahr 2015 ließ er den Kurdenkonflikt eskalieren und eroberte kurz darauf bei einer Wahlwiederholung die Mehrheit für seine Partei AKP zurück.

Gerade wurde die Journalistin Sedef Kabaş inhaftiert

Mit dem rüden Angriff auf Aksu geht Erdoğan aber zu weit. Seine Berater erkannten das sofort und wiesen laut Medienberichten regierungstreue Zeitungen und TV-Sender an, nicht über die Kritik des Präsidenten an Aksu zu berichten. Trotzdem bleibt das Thema auf der Tagesordnung und wird zur Belastung für die Regierung. In einem Fernsehinterview blies Erdogan schon nach ein paar Tagen zum Rückzug. Mit seiner Bemerkung habe er Aksu nicht gemeint, sagte er. Die Sängerin sei eine wichtige Persönlichkeit der türkischen Musik.

Der Nobelpreisträger Orhan Pamuk gehörte ebenfalls zu den über 200 Unterstützern des türkischen Popstars.Foto: imago/ZUMA Press

Es ist sehr selten für den Präsidenten, dass er einen Fehler eingesteht. Sein Zurückrudern bedeutet aber nicht, dass er künftig toleranter gegenüber Kritikern sein wird. Seine Regierung geht weiter rigoros gegen Andersdenkende vor und schüchtert ihre Gegner ein.

Am vorigen Wochenende kam die Journalistin Sedef Kabaş wegen des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung in Untersuchungshaft. Grund waren Äußerungen von Kabaş in einer Talkshow, in der sie ein Sprichwort zitierte. Obwohl sie Erdoğan oder das Präsidentenamt nicht erwähnte, reichte das für die Festnahme, denn er fühlte sich angesprochen: „Wenn ein Ochse in einen Palast einzieht, wird er damit nicht zum König. Vielmehr wird der Palast zum Stall.“

Erdoğan sagt über Kabaş’ Bemerkung, die Journalistin könne sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen. Wer den Präsidenten beleidige, beleidige zugleich die türkische Nation. Das zuständige Gericht lehnte eine Beschwerde gegen die Inhaftierung der Journalistin ab. Erdoğan ist offenbar zufrieden mit der öffentlichen Aufmerksamkeit, die der Fall erregt hat. In einer internen Sitzung der AKP-Führung sagte er laut Medienberichten über die Festnahme der Journalistin, die Regierung habe erfolgreich ein Thema setzen können. „Machen wir weiter so.“