Iranischer Regisseur Rasoulof in Cannes: Ein Affront für das Regime
Ein Happy-end wie dieses erlebt man selbst in Cannes selten, wo es inzwischen zum Ritual geworden ist, die Popularität eines Films – und damit seine Chancen auf eine Goldene Palme – an der Länge der Standing Ovations bei der Premiere zu messen. Dass der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof am Freitagnachmittag höchstpersönlich im Grand Théâtre Lumière steht, um seinen neuen Film „The Seed of the Sacred Fig“ vorzustellen, ist zweifellos die größte Sensation des Festivals.
Vor drei Wochen war Rasoulof vom Islamischen Revolutionsgericht zu acht Jahren Gefängnis und fünfzig Peitschenhieben verurteilt worden; eine Woche später gab der lauteste Regimekritiker der iranischen Filmszene bekannt, dass ihm die Flucht über die Berge gelungen war. In Cannes stellt „The Seed of the Sacred Fig“ nun den Abschluss des Wettbewerbs dar – und gleichzeitig seinen Höhepunkt, worauf nicht nur die zwölf Minuten Applaus am Ende (laut dem Branchenmagazin „Variety“ der längste dieses Jahr) hindeuten.
Gewalt in den Straßen Irans
Wie „A Man of Integrity“, mit dem Rasoulof 2017 den Hauptpreis der Nebenreihe Un Certain Regard gewann, und dem Bären-Gewinner „Doch das Böse gibt es nicht“ ist der Film eine kompromisslose Kritik am iranischen Regime; ohne den verschmitzten Humor eines Jafar Panahi, der hier 2018 mit „Drei Gesichter“ den Drehbuchpreis gewann, oder die moralischen Ambivalenzen des Cannes-Lieblings Asghar Farhadi.
Rasoulof könnte nach längerer Zeit wieder der erste iranische Filmemacher sein, der seinen Preis persönlich entgegennimmt – für einen Film, der fast wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wirkt.
Der „Beamte“ Iman (Missagh Zareh) freut sich zunächst über seine Beförderung zum Ermittler am Revolutionsgericht. Seine neue Aufgabe fällt jedoch mitten in die Proteste gegen den Tod einer jungen Studentin im Gewahrsam der Polizei. (Rasoulof bezieht sich nicht explizit auf die Ermordung von Mahsa Amini im September 2022.)
Innerhalb weniger Tage wird sein Schreibtisch von hunderten Anklagen überflutet. Und die Vorgesetzten geben ihm zu verstehen, dass das Todesurteil in allen Fällen nur eine Formalität sei. Imans Skrupel währen jedoch nur kurz.
Stattdessen beginnen die Töchter Rezvan (Mahsa Rostami) und die etwas jüngere Sana (Setareh Maleki), die neue Arbeit des Vaters zu hinterfragen. Als Rezvans Kommilitonin Sadaf (Niousha Akhshi) schwerverletzt Unterschlupf bei ihrer Freundin findet, verlagert sich der Konflikt von der Straße, wo die Sicherheitsgarden des Regimes immer härter gegen die „Frauen, Leben, Freiheit“ skandierenden Demonstrantinnen vorgehen, in die Privatsphäre. Im Iran hat das auch praktische Gründe: Rasoulof musste seinen Film erneut heimlich drehen.
Mutter Najmeh (Soheila Golestani) versucht dem Mädchen zu helfen, verhält sich zugleich aber systemkonform. Das Ansehen des Vaters und der Familie überwiegt jeden moralischen Zweifel. Sie beginnt ihre eigene Rolle in den Strukturen des Regimes jedoch zu hinterfragen. Als eine gestohlene Dienstwaffe die Paranoia des Vaters so weit steigert, dass er seine eigene Frau und Kinder von einem befreundeten Kollegen verhören lässt (eine „Familientherapie“), muss sich Najmeh für eine Seite entscheiden.
Die Social-Media-Videos von der Straße, die Gewalt gegen die Frauen, konstituieren dabei die Meta-Erzählung zu dem häuslichen Drama. Rasoulof verleiht diesen unmittelbaren Bildern, die viel stärker als jede Kinoerzählung wirken, eine gleichwertige Bedeutung. Es sind die Stimmen der jungen Generation, die sich auch in Imans Familie gegen die Eltern erheben.
Leistungsschau des Weltkinos
„The Seed of the Sacred Fig“ ist der krönende Abschluss eines Filmfestivals, das sich in diesem Jahr programmatisch sehr häufig um junge Heldinnen drehte – und politisch im Schatten der anhaltenden MeToo-Diskussionen in Frankreich stand. Am zweiten Tag hatte Judith Godrèche mit ihrem Kurzfilm „Moi aussi“ hunderten Opfern sexualisierter Gewalt eine Stimme gegeben.
Der Auftritt von Godrèche, die in Frankreich mit ihren Anklagen gegen die Regisseure Benoît Jacquot und Jacques Doillon zur Vorsprecherin einer neuen französischen MeToo-Bewegung avanciert war, war mit großem medialen Interesse erwartet worden. Wie aufgeheizt (und regelrecht gehetzt) die Stimmung in den ersten Tagen in Cannes war, zeigte sich auch an den Gerüchten um eine „schwarze Liste“ mit neuen Namen von Tätern – welche sich letztlich als Ente entpuppte. Aufregung gehört an der Croisette zum Geschäft, der Betrieb geht dann aber auch schnell wieder zur Tagesordnung über.
Denn Cannes ist vor allem ja eine Leistungsschau des Weltkinos; stets mit dem Anspruch, die state of the art zu definieren. Da tritt dann die gute Absicht schnell wieder hinter den Anspruch an die Starpower und möglichst telegene Impressionen vom roten Teppich zurück.
Die französische Regisseurin Coralie Fargeat hat mit ihrer Bodyhorror-Satire „The Substance“ in dieser Hinsicht gleich doppelt abgeliefert, indem sie Demi Moore und Margaret Qualley durch die Hölle der kalifornischen Beauty- und Unterhaltungsindustrie schickte.
Das groteske Spiel mit weiblichen Körperbildern im Spiegel einer auf Jugendlich- und Makellosigkeit getrimmten Branche sollte vermutlich mit maximalem Schockfaktor den Mangel an Regisseurinnen im diesjährigen Wettbewerb kaschieren. Vielleicht will Thierry Frémaux nach den Erfolgen von „Parasite“ und „Titane“ aber auch einfach nur den Ruf von Cannes als Hochburg des riskanten Arthousekinos untermauern.
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Das Gegenprogramm zur Körperpolitik Fargeats lieferte ihr Landsmann Jacques Audiard. Er hat der spanischen trans Darstellerin Karla Sofía Gascón in dem fantastischen Musical „Emilia Perez“ einen atemberaubenden Auftritt als geläuterte Drogenkartell-Chefin verschafft – und genauso der im US-Blockbusterkino sträflich unterforderten Zoe Saldana als Emilias Anwältin.
Das Musical ist in den vergangenen Jahren (ganz sicher mit „Barbie“) zur ironischen Folie für einen in seinem Formbewusstsein leicht gelangweilten Postmodernismus verkommen. Audiard aber nimmt in seiner Inszenierung beides ernst, die Choreografie, die Gewalt und die Körper – in den eine melodramatische Melancholie eingeschrieben ist, die auf wunderbare Weise an Almodóvar erinnert.
Immer eine Nummer zu laut
Mit dem Selbstbewusstsein, europäisches Arthousekino mit Hollywoods Starqualitäten zu verquicken, stehen diese beiden Filme repräsentativ für den diesjährigen Wettbewerb: immer eine Nummer zu groß und zu laut gedacht, dann aber inkonsequent ausgeführt.
Ein Beispiel für letzteres war Giorgos Lanthimos’ „Kinds of Kindness“ mit Emma Stone; selbst ein Kirill Serebrennikow konnte in seiner Punk-Oper „Limonov: The Ballad“ (mit Ben Whishaw) diesem Impuls nicht widerstehen. Dass Francis Ford Coppola mit seinem megalomanen, auf grandiose Weise inkohärenten Spätwerk „Megalopolis“ in den Wettbewerb eingeladen worden war, komplettiert dieses Bild. Über den Zustand des Weltkinos verrät das weniger als über das Selbstverständnis von Cannes.
Für die leisen Töne sorgt unter anderem Payal Kapadia mit „All We Imagine as Light“ über drei Frauen im Mumbai, die sich jede auf ihre Weise gegen die patriarchalen Strukturen in der indischen Gesellschaft behaupten. Was in den Konventionen des Weltkinos gern als erbauliches message movie für westliche Sensibilitäten daherkommt, entwickelt sich bei Kapadia aber zu einer flüchtigen, in ihren lyrischen Andeutungen nicht-linearen Reise durch die Nacht, in der die Lichter der Großstadt nur eine vage Orientierung bieten.
Es geht um Religion und Körper sowie deren Unvereinbarkeit (Sex!) in einer traditionellen Ordnung. Und en passant gewährt „All We Imagine as Light“ einen faszinierenden Einblick in die Arbeitswelten der Metropole. Damit ist Kapadia, nach dem hybriden Dokumentarfilm „A Night of Knowing Nothing“, auch ein aufsehenerregendes Spielfilmdebüt gelungen, das die Definition eines feministischen Kinos noch einmal weit öffnet. Hoffentlich hat Jury-Präsidentin Greta Gerwig aufmerksam hingesehen.