Gott ist nicht groß, er ist größer
Das gibt es selten. Ein Jugendbuch steht auf Platz 1 der „Spiegel“-Bestsellerliste. Einst bei „Harry Potter“ war das natürlich so. Aber Navid Kermani hat keine Erzählung, keinen Roman für Jung und Alt geschrieben, wie das Tradition hat bei den Erlebnissen Tom Sawyers und Huckleberry Finns, in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ oder bei J. K. Rowlings Zauberpotter.
Navid Kermanis neues Erfolgsbuch „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“ entwirft keine abenteuerliche Fiktion, sondern handelt als längerer Essay von den größten und letzten Dingen. Von Gott, vom Glauben, von den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Weltreligionen, spricht auch von Geburt und Tod, von der Kraft der Poesie und den Kräften der Natur. Von Metaphysik und Quantenphysik.
Gespräch mit der Tochter
Ergibt das ein Jugendbuch? Wie alle guten, großen Jugendbücher ist es ein Buch für alle. Der in Köln lebende Kulturwissenschaftler und Publizist hat es an seine zwölfjährige Tochter adressiert. Mit ihr sucht er das Gespräch, bringt sie in seinen „Fragen nach Gott“ (so der Untertitel) immer wieder mit ihren Gegenfragen ins Spiel. Die Tochter ist ein ganz zeitgemäßer Teenager, kess, klug, skeptisch und normalerweise wohl nicht sehr an Religion interessiert. Aber der heiß geliebte Opa hatte auf dem Totenbett noch den Wunsch, dass sein Sohn Navid sein nächstes Buch für die Enkelin schreiben möge: um ihr den Islam, den Koran, den Glauben an Gott zu erklären und näher zu bringen.
Großvater Kermani war mit der iranischen Familie einst vor dem Schah Ende der 50er Jahre nach Deutschland emigriert. Navid Kermani, in Siegen geboren, hatte als Schüler christlichen Religionsunterricht, ist wie sein Vater bekennender Muslim. Doch sind für ihn Judentum, Christentum und Islam nahe Verwandte, aus einer gemeinsamen Wurzel stammend, vom Glauben an nur einen Gott und dessen Propheten geprägt. Mehrfach betont der weltoffene Vater gegenüber der Tochter auch seinen Respekt vor Atheisten. Zumal religiöse Menschen nicht schon bessere Menschen seien und er selbst Zweifel kenne, vor allem gegenüber angeblich absoluten Wahrheiten.
Ein solch liberales islamisches Glaubensverständnis stützt Kermani zuerst auf den Koran. Er zitiert immer wieder schöne, weise Verse und Suren der heiligen, aber darum nicht unbefragt angenommenen Schrift. Klar, dass vor gut 1300 Jahren entstandene Texte auch in ihren historischen Zusammenhängen zu interpretieren sind; dass nur blindgläubige Fanatiker das Offene, Widersprüchliche, Geheimnisvolle des Korans verleugnen und sich auf ein paar oft nur zeitbedingte Stellen stürzen und diese verallgemeinernd für sich benutzen. Und hierbei die Achtung vor Frauen, die Gleichberechtigung aller Menschen, auch der „Ungläubigen“, bewusst überlesen. Wie das ähnlich mit der Bibel in der vielfach blutigen Geschichte des Christentums geschah.
Überraschung in den Details
All das wirkt noch nicht neu. Aber Kermanis Originalität steckt schon in seiner anschaulich leichten, schon für Jugendliche meist gut zugänglichen Sprache, die auch viel Selbstironie enthält und das gelegentliche Eingeständnis vom eigenen „Papperlapapp“. Kermani überrascht zudem mit seinem Einfallsreichtum im Detail. Beispielsweise erledigt er die Art, wie sich Fundamentalisten und Terroristen bei ihren Taten mit dem Ruf „Allahu akbar!“ auf den Islam beziehen, mit einem sehr schlagenden Hinweis. Gemeinhin wird der Ausruf als „Gott ist groß!“ übersetzt. Aber „akbar“ sei in Wahrheit eine Steigerungsform, es heiße also richtig: „Gott ist größer.“
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Diese Steigerung bedeute nun keine Verstärkung des eigenen religiösen (Macht-)Anspruchs, sondern eine völlig veränderte Aussage. „Gott ist größer“, so Kermani, meine, dass jeder Begriff von Gott das irdisch-menschliche Maß an Vergleichbarkeit und Vereinnahmung übersteige. Ähnlich wie die Unendlichkeit des Alls, die „größer“ als alle verstandesmäßige Vorstellung sei, aber gleichwohl naturwissenschaftlich begründet.
Glauben heißt nicht wissen. Gott, jenseits von jeder Menschenähnlichkeit, ist auch für den gläubigen Autor Kermani größer, genauer gesagt: anders als alles Beschreibliche. Wie aber schreibt man über das Unbeschreibliche? Man kann es nur umschreiben. Das macht die Schwierigkeit, die kleinen Schwächen und die vielen Stärken des Buchs aus, das seinen merkwürdigen Titel dem Ausspruch des Platzanweisers in einer Moschee zu Beginn der Predigt eines berühmten islamischen Mystikers im 11. Jahrhundert verdankt. Der Mystiker habe den Satz gehört und gesagt, mehr als von dort, wo man ist, einen Schritt näher zu kommen, könne auch seine Gottesbotschaft nicht verkünden.
Quantenphysik und Religion
Kermani umschreibt das Unbeschreibliche mit dem häufigen Verweis auf die Quantenphysik. Die handle von unendlich kleinen Teilchen, die nicht mehr erfahrbar sind: „Die Quantenphysik hat entdeckt, dass im Kern unserer Existenz nicht Materie ist, also etwas Gegenständliches, sondern etwas eigentlich Unnennbares.“ Gleichzeitig bestreitet die Physik den Zufall der Welt. Einstein, den Kermani nicht zitiert, sagte dazu: „Gott würfelt nicht.“ So wirken ausgerechnet Glaube und Wissenschaft bisweilen wie Parallelen, die sich erst im Unendlichen treffen.
[Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott. Hanser, München 2022. 240 Seiten, 22 €. Ab 14 Jahre]
Kermani erzählt noch von anderem Unvorstellbarem, das doch existiert. Wunderwirkungen der Poesie, der Musik oder die Magie allein des Begriffs „schwarzes Licht“ – die jedem einleuchtet, ohne als Paradox begreifbar zu sein. Oder die Wunder der Natur: dass kein Baumblatt existiert hat oder jemals existieren wird, das einem anderen Blatt auf Erden völlig gleicht. Kermani glaubt angesichts der Unergründlichkeit der Schöpfung, deren Anfang auch Urknall heißen kann, dass etwas, das wir Gott nennen, die haltlose Beliebigkeit unserer Welt verneine. So sagt er seiner Tochter: „Ich sehe dich an und glaube nicht nur, sondern weiß einfach, weiß es mit den Augen, den Ohren, dem Herzen, dass du kein Zufall bist.“