Ein Sommer, der im Mund schmilzt wie eine Süßigkeit
Cem liebt Lisa und Lisa liebt Cem, sie heiraten, bekommen ein Kind, entwickeln sich auseinander und trennen sich. Die an sich banale Geschichte, tausendfacher Lebens- und Theater-Stoff, bekommt bei Hakan Savaş Mican einen ganz besonderen Klang.
Denn „Berlin Karl Marx Platz“, nach „Berlin Oranienplatz“ und „Berlin Kleistpark“ letzter Teil der Stadt-Trilogie des Berliner Theaterautors und Filmemachers, mischt auf einzigartige Weise die Kulturen und Milieus, lässt Familientraditionen, Literatur und Musik verschiedenster Hintergründe aufeinanderstoßen und Neues hervorbringen.
Zunehmend anrührend entwickelt sich die Geschichte
Wenn der Autor sein Werk, das ebenso schwer zu klassifizieren ist – Musical? Revue? Theater mit Musik? – als „Ein Liebeslied“ untertitelt, dann gilt das nicht nur seinen Protagonisten, sondern auch der so viel und allzu oft klischeehaft-nostalgisch besungenen Stadt Berlin. Endlich ist sie einmal in Kiezen verortet, in denen das echte Leben tobt. Dass die Uraufführung an die Neuköllner Oper gehört, liegt auf der Hand.
Authentisch, widersprüchlich, zunehmend anrührend entwickelt sich die Geschichte: Hasan Hüseyin Taşgın, selbst in Neukölln geboren und als Quereinsteiger bin ins Maxim-Gorki-Theater und diverse Fernsehproduktionen gelangt, verkörpert den Neuköllner Jungen Cem äußerst glaubwürdig, beweglich, in all seinen Wandlungen von der Mauerfall-Zeit bis heute nachvollziehbar.
Zunächst ist er noch sehr mit seinem Glauben verbunden: „Wenn Mozart schon mit einem Klavier aus dem Bauch seiner Mutter kam, dann ich mit dem Koran.“
[Wenn Sie die wichtigsten News aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräteherunterladen können.]
Die Mutter spricht mit dem Foto des verstorbenen Vaters, der stolz auf seinen Sohn sein soll, wenn er einmal als Mediziner in die Türkei geht und ein anständiges türkisches Mädchen heiratet. Das sucht natürlich die Mutter aus: „Hier, Zeynep, blond, und sie hat sogar einen Beruf, Schlagzeugerin“, deutet die Schauspielerin Berivan Mara Kaya auf die exzellente Schlagzeugerin Lizzy Scharnofske in der auf der Szene postierten Band.
Derart (selbst)ironische Kalauer erheitern immer wieder das Publikum. Dabei schreckt Mican auch vor stärkerem Tobak nicht zurück, wenn er etwa Religionen verspottet oder Lisas Großmutter (Rita Feldmeier) im Nachwende-Marzahn ungeniert auf die Fremden schimpfen und und selbst das Urenkelchen als „geliebtes Kümmelbalg“ bezeichnen lässt. Die Enkelin Lisa (Alida Stricker) soll die Karriere machen, die der ausgebildeten Opernsängerin verwehrt blieb – denn bald war man in den Fängen der Stasi, die Eltern geflüchtet, verschollen oder tot, wer weiß das schon.
[Nächste Vorstellungen: 19./20.10., 22.-24.10., 20 Uhr]
Doch Lisa tut sich schwer mit Rilkes „Der Tod ist groß“ zu Peer Neumanns melancholischer Klavierbegleitung. Da kann auch die richtige Atemtechnik nicht helfen. Lieber vertraut sie im Berlin der unbegrenzten Möglichkeiten der belebenden Wirkung des Geldes. Auf Tupperpartys oder mit ihrer neuen Geschäftsidee einer „Matenade“ jagt sie ihm nach.
Sebastian Lempes Videos vom sich verändernden Neukölln geben der Szene die Buntheit, während Bühne und Kostüm (Alissa Kolbusch/Marcus Karkhof) Micans zuweilen drastische Personenführung eher unauffällig unterstützen. Den eigentlich vertiefenden Hintergrund aber schaffen Poesie und Musik: Schade, dass die Schauspieler Micans von Rilke und Nazim Hikmet inspirierte Texte vom „Blick – wie ein Sommer, der im Mund schmilzt wie eine Süßigkeit“, von Berlin, das „mich geküsst, seine Lippen das Märzmesser“ trotz Mikro so wenig verständlich über die Rampe bringen.
Und auch wieder nicht schade, denn die Musik von Jörg Gollasch spannt den Horizont der Emotionen und Gedanken weit auf: in farbenprächtigen Mischungen aus Klassik-Anleihen und mitreißenden Rockmusik, orientalischen Tanzrhythmen und Melismen, denen Wassim Mukdad an der Oud feine besinnliche Töne beisteuert.