Gegen das Vergessen
Kaum zu glauben, dass mehrere Werke, die an diesem Abend erklingen, zum ersten Mal auf den Pulten der Berliner Philharmoniker stehen. Das Programm aus der Reihe „Lost Generation“ gilt drei jüdischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, die auf unterschiedliche Weise Opfer der Nationalsozialisten geworden sind. Raritäten, vergessene Musik, darunter Premieren.
Der Abend nimmt einen umjubelten Lauf. Denn das Orchester mit Kirill Petrenko macht sich das bislang Unbekannte mit vollem Einsatz zu eigen. Die Interpretationen wachsen aus der Harmonie zwischen den Musikerinnen und Musikern mit ihrem Chefdirigenten.
Erwin Schulhoff aus Prag starb 1942 im Lager Wülsburg. Als gefragter Pianist hatte er im Dienst der Neuen Musik gestanden, wovon seine zweite Symphonie (1932) kaum etwas verrät. Denn sie ist neoklassisch geprägt, unterhaltsam im besten Sinn, witzig und voll dankbarer Bläsersoli, mit denen die philharmonischen Spitzenkräfte Daniele Damiano (Fagott), Albrecht Mayer (Oboe) und Andre Schoch (Trompete) bezaubern.
Der italienische Komponist Leone Sinigaglia erlitt einen Herzinfarkt, als 1944 die SS nach Turin kam. Für Violine und Orchester entstammen seiner Feder eine schwermütige Romanze in A-Dur und eine „Rapsodia piemontese“ (1900), die sich als wahres Virtuosengold entpuppt. Erst- und letztmals erklang sie bei den Philharmonikern 1907, der legendären Reihe ihrer Konzertmeister zum Trotz. Noah Bendix-Balgley, gefeierter Erster Konzertmeister, betont mit seiner feinen Melodiegestaltung und geigerischer Akrobatik, dass es sich um die fetzige Musik lohnt.
Alexander Zemlinsky emigrierte 1938 aus Wien in die USA, wo er sich fremd fühlte. Sein Freund Arnold Schönberg, der ihm viel verdankt, hat „fest geglaubt, dass er ein großer Komponist war“, was heute eine gewisse Renaissance seiner Opern bestätigt. Zemlinskys „Lyrische Symphonie“ (1924), Untertitel: „Gesänge nach Gedichten von Rabindranath Tagore“, hat bei den Philharmonikern schon Aufführungen unter Maazel und Runnicles erlebt.
Thematisiert werden Liebe und Abschied im Labyrinth der Nacht. Es ist ein Werk nahe dem „Lied von der Erde“ von Gustav Mahler, dabei eher kantig und hochexpressiv mit farbenreich schimmerndem Orchestersatz. Christian Gerhaher mit bewundernswerter Ausdruckskraft und Lise Davidsen mit ihrem leuchtenden Sopran stehen für die Vokalsoli der Sonderklasse. Triumphales Finale eines Abends gegen das Vergessen.