Mondrians Fernglas

Vor zwei Jahren kehrte der international bekannteste chinesische Künstler Ai Weiwei Berlin den Rücken und ließ dabei in mehreren Interviews kein gutes Haar am Land seines Exils. Der Deutschland-Begeisterung seines Landsmannes Liu Ye scheint das keinen Abbruch getan zu haben. Zu dem Eindruck muss man kommen, wenn man sich dessen aktuelle, seine erste Schau in der Galerie Esther Schipper ansieht: Sieben von zwölf ausgestellten Arbeiten nehmen schon im Titel unmittelbaren Bezug auf das Bauhaus; zwei auf den neusachlichen Fotografen Karl Blossfeldt. Es wird einem versichert, dass die Wahl der Motive nichts zu tun habe mit dem Ort der Ausstellung und etwa in China ganz genau so erfolgt wäre. Nur dass der Mann, der hierzulande (auch nach einer Einzelausstellung in der Mailänder Fondazione Prada) nur Insidern ein Begriff sein dürfte, bei sich zu Hause ein Superstar ist.

Die Politiken der Galerien in Sachen Preistransparenz sind durchaus unterschiedliche. In der Regel lässt sich immerhin eine Preisspanne in Erfahrung bringen – und veröffentlichen. Im Falle Liu Ye nun wird lediglich die Zahl mit der eins vorne und den sechs Nullen dahinter raunend in den Raum gestellt: rein hypothetisch, versteht sich. Die Bilder von Liu Ye, selbst diese recht moderaten Formate zwischen 32,5 x 24 und 52 x 80 Zentimetern seien im Grunde gar nicht bezifferbar. Denn um die wenigen Bilder, die er male – acht in einem besonders produktiven Jahr –, konkurrierten chinesische Sammler so zahlreich, dass es im Grunde gar keinen Markt gebe. Man wundert sich nicht, dass Liu Ye in New York vom Supergaleristen David Zwirner vertreten wird.

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Er steht allerdings auch noch auf der Künstlerliste der alteingesessenen Wilmersdorfer Galerie Taube. Das auf der Webseite abgebildete Werk („Preis auf Anfrage“) datiert aus dem Jahr 1993. Darauf ist, als Bild im Bild, ein typischer orthogonal strukturierter Mondrian zweifelsfrei zu identifizieren (und darunter eine Putte mit Fernglas). Es ist also wahr: Liu Yes Beschäftigung mit den im Westen als klassische Moderne begriffenen Formen ist kein Novum in seinem Schaffen – in dem es weitere notorisch wiederkehrende Motive gibt: unschuldige Kindfrauen oder die Bilderbuchfigur „Miffy“ des Niederländers Dick Bruna (Weil Liu Ye der Sohn eines Kinderbuchillustrators ist?).

In dieser Ausstellung mit dem Titel „Internationale Architektur“ gibt es sie nicht. Es gibt aber das von Mondrians De-Stijl-Kollegen Rietveld um 1923 gebaute Haus Schröder („Mrs. Schroeder“, 2020). Die Fassade von Gropius’ Bauhausgebäude in Dessau mit dem emblematischen vertikalen „Bauhaus“-Schriftzug kommt in der Schau gleich dreimal vor („Bauhaus No. 3“, 2017, „No. 4“ und „No. 6“, beide 2019). Abschluss und Höhepunkt sind zwei Bilder, die Oskar Schlemmers Triadisches Ballett und den kostümierten Meister höchstselbst zeigen.

[Galerie Esther Schipper, Potsdamer Str. 81 E; bis 23. Oktober, Di–Sa 11–18 Uhr]

Der 1964 geborene Liu Ye hat in Peking zunächst nicht Kunst, sondern Industriedesign studiert. Zu dieser Zeit dürfte er von den modernen Bewegungen der Zeit um 1920 erfahren, seine Obsession damit ihren Ausgang genommen haben. Er lässt auch ihre Nachfolger gelten: Für „Cuadra san Cristóbal“ (2020) stand offenbar ein vom René Burri 1976 aufgenommenes berühmtes Foto Pate, das ein Pferd vor der pinkfarbenen Wand der gleichnamigen, von Luis Barragán zwischen 1966 und 1968 in Mexico City erbauten Pferdestallung zeigt. Noch eine Bild- im-Bild-Variante.

China als Weltmacht der Reproduktion?

Gemalt hat Liu Ye sie alle in Acryl auf Leinwand. Weder die Motive in dieser Schau noch die akkurate Maltechnik scheinen den geringsten Hinweis auf seine chinesische Herkunft zu geben. Oder sollte es sich um eine einzige, langfristig angelegte Auseinandersetzung mit dem Ruf Chinas als Weltmacht der Reproduktionen und Plagiate handeln?

Nach der Designausbildung in Peking hat er sich die künstlerische Ausbildung in den frühen 1990er Jahren an der Berliner Hochschule der Künste besorgt, die heute UdK heißt und zwischenzeitlich einen Professor namens Ai Weiwei hatte. Anders als dieser soll Liu Ye in seinen Berliner Jahren sehr schnell Deutsch gelernt haben – er wäre auch gerne zur Ausstellungseröffnung gekommen, wenn die Pandemie es erlaubt hätte. So ist vieles nur aus zweiter Hand zu erfahren und die Bilder müssen für sich selbst sprechen. Allein: Zu ihrem Kontext sagen sie einem einfach nichts.

Gekommen ist, als einer der ersten Besucher am Tag der Eröffnung, der ehemalige Galerist Jörg Johnen – der auch der ehemalige Galerist Liu Yes ist. Und der immer in dem Ruf stand, die Künstler, die er dann mit viel Herzblut vertrat, mit der entsprechend großen Sorgfalt auszuwählen. Klar, jeder kann sich mal irren. Aber können sich ein Jörg Johnen UND eine Million (oder waren es doch ein paar weniger?) chinesische Sammler in Liu Ye geirrt haben? Millionenschwer müssen sie jedenfalls sein.