„Paint it all!“ in der Berlinischen Galerie: In der Hauptstadt wird einfach weitergemalt
Da draußen ist Krieg. Und hier drinnen wird auch aufgerüstet, teilweise. Hier drinnen, damit ist die Berlinische Galerie gemeint, in der man gleich hinter der Museumskasse auf eine spannende neue Gruppenschau mit Malerei stößt: „Paint it all!“. Insgesamt 16 Werke von vier Künstlerinnen und sechs Künstlern sind zu sehen. Die Frage, was diese malerischen Positionen thematisch oder stilistisch miteinander verbindet, ist eine harte Nuss, die – Achtung: Spoiler – kaum zu knacken ist.
Es gibt aber einen gemeinsamen Nenner: Die Künstler:innen leben alle in Berlin. Außerdem stammen sämtliche Exponate aus der Museumssammlung, die sich zunehmend sehen lassen kann, denn die Berlinische Galerie verfügt seit etwa vier Jahren über einen Ankaufsetat.
Einen Berlin-Stil oder ortsspezifische Themen findet man nicht, das räumt auch die Kuratorin Stefanie Heckmann ein. Es gibt kein werkübergreifendes Espressivo wie bei den Jungen Wilden der 1980er, ob sie nun Bach, Barfuss, Fetting oder Hödicke heißen. „Paint it all!“ bedeutet auch: die malerischen Idiome sind maximal divers.
Heckmann, die nach eigenem Bekunden schon „lange Lust“ auf so eine Schau hatte, zeigt auf den 2012 gemalten „Geist“ von Eberhard Havekost, der 2019, also kurz vor Corona, viel zu jung verstarb. Trotzdem zieht Heckmann eine Parallele zwischen dem intensiven Medienkonsum in der Pandemie und Havekosts Praxis, „das Digitale malend ins Analoge zurückzuholen“, wie die Kuratorin es formuliert. Die nebulöse Gestalt, die sich bei Havekost vom gelblichem Fond abhebt, ist unscharf – wirkt aber so viel präsenter als ein vorbeihuschendes Mattscheibenbild.
Für Präsenz sorgt das Material, die Farbe, die sich in den unterschiedlichsten Zuständen zeigt. Tamina Amadyar malt mit in Glutinleim gelöstem Pigment wie eine Aquarellistin. „Blue world“ ist eine abstrakte Landschaft aus Blau- und Orangetönen. Dahinter steht (immer) eine Impression, ein Erlebnis der in Kabul geborenen Künstlerin, aber wir erfahren nicht, welches. Doch das Bild kann der Ausgangspunkt eines neuen Erlebnisses sein – der Betrachter:innen.
Bei der Britin Zora Mann steht eine psychotische Episode hinter der gezeigten Installation aus Wandmalerei, Kissen und einem Perlenvorhang. „The Daughter of the Easter Egg“, so der Titel, war im Krisenmodus die Selbstbezeichnung der Künstlerin. Eine magische Rosette aus Augenformen saugt uns förmlich in das Wandbild hinein. Interessant, dass man in diesem Environment gleichsam wohnen kann.
Ist das „Kriegerische“ trotzdem ein Mikrothema dieser Ausstellung?
Jens Hinrichsen, Kunskritiker in Berlin
Knapper als in Manns raumgreifendstem Ausstellungsbeitrag verbinden sich bei Thomas Zipp und Peter Stauss das Plastische und das Flächige miteinander. Zipps „Faces“ besteht aus dem Gemälde einer zeichenhaft-düsteren Berglandschaft, in die ein Gesicht reingekratzt wurde. Davor eine Figur aus Holz, die das Bild zu bewachen scheint.
Bei Peter Stauss begegnen sich eine Kleinbronze und ein ziemlich verrücktes Gemälde, beide gehören zur Werkgruppe „Dutch Master“. Hier wie dort sind Figuren mit breitkrempigem Hut dargestellt, die auf den Niederländer Frans Hals verweisen – auf dem Bild springt zudem ein Distelfink ins Auge, wie ihn Hals’ Künstlerkollege und Zeitgenosse Carel Fabricius malte und der zur Titelfigur eines Romans von Donna Tartt wurde. Stauss, der den Mann unterm Hut als Phantom malt – angedeutet durch Mumienbänder, die herumfliegen, einen supermuskulösen Arm und pinseldünne Beinchen – greift vergleichsweise weit in die Kunstgeschichte zurück.
Die Schweizerin Christine Streuli kombiniert in ihrem „Warpainting_008“ ein Camouflage-Muster mit gestischer Malerei, die am Format herabläuft, als wäre sie noch flüssig. Die ursprünglich militärischen Tarnmuster wurden von der 1968er-Protestkultur vereinnahmt und später zum Modetrend, was Streulis neonbunte Farbpalette zu reflektieren scheint. Ist das „Kriegerische“ trotzdem ein Mikrothema dieser Ausstellung?
Ein demoliertes Arztauto hinter der Stellwand
Zumindest brutal und auf faszinierende Weise roh wirken die drei sehr haptischen Lackgemälde von Tatjana Doll, darunter ein steingrauer Kopf („Dummy_Akku_Akku_Amalgam“) und ein riesenhafter Hulk („DUMMY_Dr Bruce Banner II“). Das mit kühnen breiten Pinselhieben hingeworfene Großformat eines demolierten Arzt-Autos – „CAR_Crankcase“ – ist wie eine Stellwand im hinteren Bereich des Ausstellungsparcours positioniert.
Sie arbeite nicht mit Zufällen, sondern mit Unfällen, sagt Tatjana Doll in einem der sehenswerten Netzvideos zu einzelnen Positionen, die auf der Museumsseite abrufbar sind. Philip Grözinger beschwört mit einem Diptychon ein Katastrophenszenario herauf, das der Maler aber ironisch bricht. Er ist der gewitzte Fabulierkünstler unter den Maler:innen der Ausstellung.
Im Nachthimmel über einer Munch-haften Fjordlandschaft tauchen fliegende Untertassen auf, die mit Laserstrahlen auf brave Schneemänner schießen. Letztere sind vermutlich Pazifisten. Der Bildtitel „Rise like lions after slumber 1/2“ bezieht sich auf Gedichtzeilen des britischen Romantikers Percy Bysshe Shelley, der mit „The Masque of Anarchy“ ein Hohelied auf den gewaltlosen Widerstand schrieb.
Doch lässt sich (diese) Malerei wirklich als politisches Statement lesen? Absurde Details sprechen dagegen. So könnte ein „Schneemann“ im rechten Bildvordergrund ebensogut dem missglückten Versuch eines Aliens entsprungen sein, einen Käseigel nachzubauen. Brechen wir den Interpretationsversuch an dieser Stelle ab, denn diese surreale Malerei-Erzählung kreist auf einer erdfernen Umlaufbahn. Und das verbindet die Berliner Künstler:innen nun wirklich: die Trias von Farbe, Freiheit, Frechheit.
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