Sanfte Provokation für behutsame Zeiten

Im Januar 1982 erhielt Thomas Brasch den Bayerischen Filmpreis für „Engel aus Eisen“. Nachdem er den Porzellanlöwen am Fuß des Rednerpults abgestellt hatte, lobte der seit 1976 im Westteil der Stadt lebende Ost-Berliner nicht nur die Kriminalität als „urwüchsigsten Ausdruck der Auflehnung“, sondern dankte auch der Filmhochschule der DDR für seine Ausbildung. Das Publikum reagierte mit Buhrufen, während Ministerpräsident Franz-Josef Strauß Brasch amüsiert als „lebendiges Demonstrationsobjekt der Liberalitas Bavariae“ titulierte. Wie kostbar erscheint eine solche Provokation heute, in diesen überbehutsamen Zeiten. Andreas Kleinert, Jahrgang 1962, studierte wie Brasch an der Filmhochschule Babelsberg. Sein Film „Lieber Thomas“ eröffnete am Donnerstag die Reihe Neues Deutsches Kino beim Filmfest München.

Nach der letztjährigen Zwangspause entschied sich Festivalleiterin Diana Iljine für einen gleichsam „amphibischen“ Neuanfang in sieben Kinos und acht Freiluftstätten wie einem „Sugar Mountain“ getauften ehemaligen Betonwerk oder dem Olympiasee. Bis zum 10. Juli locken „kuschelwarme“ Kinoabende, wie der künstlerische Direktor Christoph Gröner meinte. Doch für ein Programmheft zur besseren Orientierung über die 70 Filme aus 29 Ländern haben die Energien in diesem spätpandemischen Jahr offenbar nicht gereicht – am Geld kann es beim Münchner Publikumsfestival, das Markus Söder 2019 schon zur „Gegen-Berlinale“ ausrief, jedenfalls nicht gelegen haben.

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„Wollen wir heute noch diese Ost-West-Geschichten hören?“, fragte Andreas Kleinert das maskierte Publikum. Zehn Jahre erarbeitete er sich mit Drehbuchautor Thomas Wendrich den Brasch-Stoff samt der filmischen Illustration von Träumen und Halluzinationen – das Ergebnis ist ästhetisch herausragend, nicht zuletzt dank Albrecht Schuch in der Titelrolle. Immer wieder beschert die untergegangene DDR die spannendsten Stoffe. Das bewiesen auch Katharina Marie Schuberts überambitionierte Mutter-Tochter-Nachwende-Story „Das Mädchen mit den goldenen Händen“ und „Nahschuss“ von Franziska Stünkel über die letzte, 1981 in Leipzig vollzogene Hinrichtung. Furcht und Elend der deutschen Diktaturen: Den zeitgeschichtlichen Schwerpunkt ergänzte das überaus strenge Kammerspiel „Schattenstunde“ von Benjamin Martins. Gestützt auf Jochen Kleppers Tagebucheinträge thematisiert es den Suizid des Schriftstellers gemeinsam mit seiner jüdischen Frau und ihrer halbwüchsigen Tochter Ende 1942. Seine Texte seien wie Wasser in einer Vase, von dem das – offenbar blumengleiche – Volk trinke und das deshalb nicht umkippen dürfe, belehren die NS-Machthaber Klepper, um ihn zur Scheidung zu drängen. Die Enge der Wohnstube wird aber auch zum Manko des Films, dem eine Außenperspektive fehlt.

Ohne Enge und Beschränkung: Dietrich Brüggemann

So etwas wie Enge oder Beschränkung ist niemals das Problem eines Films von Dietrich Brüggemann. Auf unnachahmlich unerschrockene Weise nimmt der Mit-Initiator von #allesdichtmachen die bundesdeutsche Gesellschaft samt ihrer Talkshow-, Geschlechterdefinitions- und sonstigen Neurosen in den Fokus. „Nö“, so auch der Titel seines neuen Films, antwortet die Schauspielerin Dina, gespielt von Anna Brüggemann, die mit ihrem Bruder das Drehbuch schrieb, ihrem Freund (Alexander Khuon) auf die Frage, ob sie sich nicht doch lieber trennen wollten. Er habe nämlich das Gefühl, sagt er im Halbdunkel des Bettes, „wir ziehen hier ein Programm durch, was eine schweigende imaginäre Gruppe von uns erwartet“.

In 15 Tableaus, die mit überbordender Spielfreude ins Surreale abheben, entwirft Brüggemann den Lebenslauf einer Liebe. Diese bewährt sich durch vielerlei Krisen hindurch – ausgelöst vom gefühlskalten Schwiegervater (Hanns Zischler gibt den Patriarchen) und seiner gefühlsduseligen Frau (Isolde Barth), einem erwachenden und prompt moralisierenden Patienten auf dem OP-Tisch oder einem Kindergeburtstag im Kletterparadies, bei dem der kleine Ottokar keine Getreideprodukte verträgt. Es ist dieser Freigeist, der dem aktuellen deutschen Kino so not- wie auch wohltut.

Triumph der Fantasie

Einen ähnlichen Triumph der Fantasie vermitteln die altgriechischen Szenenbilder und Kostüme in der Sekten-Farce „A Pure Place“ von Nikias Chryssos. Etwas zu stark von seiner guten Absicht dominiert wird hingegen Sarah Blaßkiewitz’ Film „Ivie wie Ivie“ rund um ein Leipziger Sonnenstudio. Die 27-jährige Ivie (Haley Louise Jones), Tochter einer Deutschen und eines Senegalesen, bewirbt sich als Lehrerin und erfährt dabei ständig Alltagsrassismus. Eines Tages steht ihre unbekannte Halbschwester vor der Tür. „Aber du bist viel dunkler, wenn man das sagen darf“, meint Ivies Mitbewohnerin, die beim Zoll mit Abschiebungen betraut ist. So werden brav Klischees abgearbeitet, aufgemuntert durch den sächsischen Witz von Solariumsbetreiber Ingo (Maximilian Brauer).

Unausgesprochene Diskriminierung und verweigerte Mitmenschlichkeit verhandelt dagegen sehr subtil „Monday um zehn“ von Mareille Klein. Die aufkeimende Liebe zwischen der nach einem Unfall auf Hilfe angewiesenen Best-Agerin Helga (Ulrike Willenbacher) und ihrem Aushilfs-Putzmann ( Zbigniew Zamachowski) stößt in einem auf Contenance bedachten gutbürgerlichen Umfeld (großartig als Feind-Freundin: Imogen Kogge) auf unüberwindliche Widerstände.

Nichts anderes kennen die Protagonist:innen in dem berührenden Dokumentarfilm „Trans – I got Life“ von Doris Metz und Imogen Kimmel. Die Idee, trans Personen von ihrem Schicksal erzählen zu lassen, entstand vor fünf Jahren, als sich Kimmel im Flugzeug mit einem plastischen Chirurgen unterhielt. Wenn sich die stattliche Verena, die ihr Dorf nur als Mann kennt, nach der ersehnten Geschlechtsanpassung nicht an das Grab ihrer Großmutter wagt, fühlt man sich ebenso beklommen wie sie.