Ein Ding namens Ernst
Der Deal wird mit Schnaps besiegelt. Anfang 1949, als Ernst, das mittlere von sieben Kindern einer armen Schweizer Bauernfamilie, elf Jahre alt ist, geben ihn seine Eltern weg, für einen Franken am Tag. Fern der Heimat muss er fortan bis kurz vor seinem 18. Geburtstag von früh bis spät bei einer anderen Familie auf dem Hof arbeiten und wird kaum besser behandelt als ein Ackergaul.
Sein neuer Herr führt ein hartes Regiment und schlägt den Jungen im Suff blutig, von dessen hartherziger Frau hört er nie ein gutes Wort, zu essen geben die beiden ihm oft kaum genug.
Die Schule darf der vor allem im Kopfrechnen talentierte Junge nur selten besuchen, die wenigen glücklichen Momente mit anderen Kindern muss er oft mit harten Strafen seines Herren bezahlen, der sich von ihm als „Meister“ anreden lässt. In seiner wachsenden Verzweiflung fragt Ernst sich immer wieder, wieso seine Eltern gerade ihn weggegeben haben.
„Verdingbuben“ wurden sie genannt, die Schweizer Kinder, die derartige Schicksale bis in die 1960er Jahre erlebten – Schätzungen zufolge waren es Hunderttausende. Einer von ihnen war der Vater der Schweizer Künstlerin Lika Nüssli. In ihrem Buch „Starkes Ding“ (Edition Moderne, 232 S., 29 €) erzählt sie seine Geschichte, basierend auf langen Gesprächen mit dem heute 85-Jährigen.
Nüsslis Stil ist über weite Strecken skizzenhaft, die Figuren sind mit dickem Filzstift cartoonhaft gezeichnet und dadurch leicht wiederzuerkennen. Der roh wirkende Strich zeigt die Härten der Landarbeit und die Rastlosigkeit, mit der Ernst durch randvoll mit schwerster Arbeit gefüllte Tage getrieben wird.
Inspiriert von der traditionellen Senntumsmalerei
Zwischendurch eingestreute Landschaftsbilder sind hingegen mit feinem Federstrich gezeichnet und vermitteln eindrucksvoll die Schönheit wie auch die Gnadenlosigkeit der Natur, die den Jungen umgibt. Für andere Szenen setzt Nüssli auf einen fantastischen, teilweise surrealistischen Stil, der einige der besonders schmerzhaften Erlebnisse der Hauptfigur wie Szenen aus einem Albtraum erscheinen lässt.
Vielfach nimmt die Zeichnerin stilistische Anleihen bei der Senntumsmalerei, einer lokalen Form der Bauernkunst. So entstehen leicht zugängliche, auf den ersten Blick naiv wirkende Bildfolgen von der Arbeit auf den Feldern und mit den Tieren.
[„Vergiss dich nicht“ von Lika Nüssli war 2018 einer der Comic-Favoriten der Tagesspiegel-Leser:innen, mehr dazu hier.]
Zum Ende des Buches kulminieren die anfangs noch locker über die großzügig gestalteten Seiten verteilten Zeichnungen in dichten, zunehmend expressiven Panoramabildern, die meist ohne Worte den schier endlosen Kreislauf der Ausbeutung, der Gewalt, aber auch der kurzen Glücksmomente des Jungen mit den von ihm betreuten Tieren vermitteln, so wie die hier zu sehende Doppelseite.
Die enorme Vielseitigkeit und Produktivität der 1973 geborenen Lika Nüssli kann derzeit auch in einer Retrospektive im Cartoonmuseum Basel bewundert werden. Dort gibt es neben Originalen aus „Starkes Ding“ auch Arbeiten aus ihrem vorherigen Buch zu sehen, „Vergiss dich nicht“, einer zeichnerischen Auseinandersetzung mit ihrer an Demenz erkrankten Mutter.
Dazu kommen Gemälde, Comic-Strips, Kinderbuchillustrationen, Skulpturen und andere dreidimensionale Arbeiten, Zeichnungen auf Textil sowie Kunstwerke, die Teil von Performances waren. Bis zum 29. Mai lässt sich hier eine Künstlerin kennenlernen, die in der Schweiz zu Recht schon länger gefeiert wird, in Deutschland vom großen Publikum aber erst noch zu entdecken ist.