Wie Kinder zu Dichtern werden

Wirklich besiegt werden kann Covid 19 wohl nur durch Impfdosen, aber bis es so weit ist, sind auch Worte hilfreich. Zornige Worte, ungezügelte Worte, laute Worte. Zum Beispiel: „du olle Qualle! / du Quarkgesicht! / du quatschiger Lumpen! / du Quellenlatscher! / du unbequemer Quieker! / SCHIMPFQUADRAT! / blöder Virus.“ So geigt ein siebenjähriger Junge, der sich Rübezahl Cocktail nennt, dem Menschheitspeiniger die Meinung. Sinombre, acht Jahre alt, versucht es in gedämpfter Tonlage: „Coronavirus / kannst du bitte / weggehen / kannst du bitte / ins Weltall gehen / kannst du bitte / in ein schwarzes Loch gehen.“

Die Sprache der Sterne

Rübezahl und Sinombre sind dem Aufruf gefolgt, ein Gedicht mit sieben Zeilen an das Coronavirus zu schreiben. Bei ihren Texten handelt es sich gewissermaßen um Auftragskunst. Die Schriftstellerin Kathrin Schadt hatte zu Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 eine Posiewerkstatt gegründet, um ihre siebenjährige Tochter, mit der sie in Barcelona lebt, zu beschäftigen. Bald weitete sich das Projekt aus, 60 Familien meldeten sich online an, Dichter:innen wurden für eine Kooperation gewonnen. Jeden Freitag gaben Autor:innen wie Monika Rinck, Tobias Elsässer oder Uljana Wolf den Kindern eine Schreibaufgabe.

Sie lauteten „Stell dir vor, du bist ein Tier“ oder „Wie sprechen die Sterne?“. Bevor die Gedichte eine Woche später auf Facebook veröffentlicht wurden, konnten die Kinder sie dort in einer digitalen Gruppe diskutieren und dazu auch Fotos und Videos hochladen. Die Werkstatt bekam den Namen „Poedu“, weil das persönlicher und weniger hochtrabend klingt als „Poesie“. Schließlich sollte beim Drauflosdichten alles erlaubt sein, und mitmachen durften alle: „ich, er, sie und du.“

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„Poedu“ heißt nun auch das Buch, in dem die besten Arbeiten versammelt sind, die in 25 Durchgängen vom März bis in den Dezember 2020 entstanden. Geistesblitze sind darunter, ins Surreale verrutschte Alltagsbetrachtungen, Traumprotokolle, lange Aufzählungen und kurze Verkündigungen. Wie erklärt man jemandem, der keine Ahnung davon hat, was ein Gedicht ist? Tintenfisch, 9 Jahre alt, macht es so: „Mein Gedicht ist wie ein scheues Tier / es kommt zu dir, zu mir, wann es möchte. / Gib ihm auf keinem Fall Erbsen und auch kein Eis, / es mag es nicht kalt, mag es nicht heiß. / Du musst es locken mit einer Chili-Schote, / dann reicht es dir seine Pfote.“

Ein Vogel, geformt aus Buchstaben

Manche Aufgaben haben es in sich. Ein Akrostichon sollen die Kinder schreiben, also ein Gedicht, bei dem die Anfangsbuchstaben der Zeilen zusammen ein Wort ergeben. Sie müssen Tieren zuhören und notieren, was es sagt. Vorbild ist „Fisches Nachtgesang“ von Christian Morgenstern, der aus lauter „U“s und Gedankenstrichen besteht. Anisnofla, 7, benutzt sehr viele „W“s, ein „U“ sowie jeweils zwei „O“s, „I“s und „X“-e und erschafft daraus das „Tapatoc“, ein vogelartiges Wesen mit dickem Gefiederbauch und spillerigen Stummelbeinen.

[Kathrin Schadt (Herausgeberin): Poedu. Poesie von Kindern für Kinder. Mit Illustrationen von Petrus Akkordeon. Elif Verlag, Nettetal 2021. 18 €]

Ein anderer Anstoß kommt von Günter Eich und seinem Gedicht „Inventur“ („Dies ist meine Mütze, / dies ist mein Mantel …“). Welche Sachen sind wichtig, welche Personen unverzichtbar, was muss festgehalten werden? Jumana, 10, reimt: „Dies ist mein Zimmer, / dies ist mein Schrank, / hier mein Bett / mit hölzernem Rand. / Schreiben, schreiben, / ganz klar – das ist mein Tagebuch, oh ja!“ Dichten heißt sortieren.

Liste voller Lebenswünsche

Anders verhält es sich mit der „Löffelliste“, statt ums Haben geht es bei ihr ums Wünschen. Wer möchte, kann sie auch Bucket List nennen. Was willst du erlebt haben, bevor du den Löffel abgibst? Karline Schlumperbein formuliert es so: „Auf dem Mond tanzen / einen schwebenden Ranzen / zur Sonne fliegen / Papa im Schach besiegen / auf einem Drachen reiten / niemals streiten / ich möchte Akrobatin werden / und über ein Hochhaus springen / und als Rockstar auf / einer Bühne singen.“

Die Poesiewerkstatt ist nicht geschlossen, das Projekt geht weiter (Anmeldungen unter poedu.net). Geplant ist auch ein neues Buch.