„Shared Landscapes“ der Berliner Festspiele: Sind Menschen auch Natur?
Am Ende dieses Spaziergangs durch den brandenburgischen Wald ist das Notizbuch mit Blutflecken übersät. Nein, kein Drama, nur das Resultat einer so unerbittlichen wie ausdauernden Stechmücken-Attacke bei subtropischen Temperaturen und hoher Luftfeuchtigkeit. Aber was soll’s, das hätte schlimmer kommen können.
Genauer: das wird wohl schlimmer kommen. Wenn in ein paar Jahren klimawandelbedingt auch hierzulande die Asiatische Tigermücke (Aedes albopictus) heimisch geworden ist, die neben anderen fiesen Krankheiten das Dengue- und das Zika-Virus überträgt, dann könnte so eine Outdoor-Performance wie die, um die es im schönen Hangelsberger Forst geht, nackte Lebensgefahr bedeuten. Dann dürfte auch das Anti-Brumm, das an diesem Nachmittag großzügig an die versammelten Pressevertreter:innen verteilt wird, nicht mehr helfen.
Die Kuratorin Caroline Barneaud vom Théâtre Vidy-Lausanne und der Theatermacher Stefan Kaegi – Mitgründer der Gruppe Rimini Protokoll – haben nach Hangelsberg eingeladen, um ihr Projekt „Shared Landscapes“ vorzustellen. Im Untertitel: „Sieben Stücke zwischen Wald und Wiese“.
Dahinter verbirgt sich eine siebenstündige Performance inklusive Pausen und Picknickmöglichkeiten, die am Wochenende Premiere feiert und nicht zuletzt die Berliner Stadtbevölkerung einlädt, in den Regionalexpress Richtung Frankfurt (Oder) zu steigen, um das eigene Naturverhältnis und -verständnis künstlerisch befragen zu lassen.
Europäische Landschaften
Den Rahmen bildet das von der EU kofinanzierte Projekt „Performing Landscape“, das verschiedene europäische Theater-Institutionen zusammenbringt, die jeweils eine „Shared Landscapes“-Ausgabe in einem Stadtrandgebiet veranstalten. Das Théâtre Vidy-Lausanne und das Festival d’Avignon haben im Mai und Juli bereits vorgelegt, jetzt folgt die Berliner Station, verantwortet von den Berliner Festspielen.
Es handelt sich bei „Shared Landscapes“ nicht um eins dieser Site-Specific-Projekte, die sich nur auf einen Ort setzen, um ihm möglichst viel Atmosphäre zwecks Aufwertung des Dargebotenen abzupressen. Die Teilnehmenden – bis zu 300 Menschen, die auf verschiedenen Parcours die Performances erleben – sollen sich wirklich auf diesen Forst nördlich der Spree einlassen.
Gut also, dass bei der Vorbesichtigung auch Lars Kleinschmidt dabei ist, der Leiter der Landeswaldoberförsterei Hangelsberg. Ein Mann, der einem von Berufs wegen jeden Baum erklären kann und sich freut, dass im Zuge von „Shared Landscapes“ mal der Wald in den Blick rückt, der noch existiert – und nicht nur der, der aufgrund des nahen Fabrikbaus eines amerikanischen Autoherstellers abgeholzt wurde.
Im künstlerischen Beitrag von Begüm Erciyas und Daniel Kötter werden die Teilnehmenden mittels VR-Brille hundert Meter in Luft steigen und den Forst aus der Vogel-, beziehungsweise Drohnenperspektive betrachten können. Ein grünes Meer.
Borkenkäfer und Kindermund
Man sollte sich von der mückenumsurrten Idylle allerdings nicht täuschen lassen. Auch am Hangelsberger Forst ist der Klimawandel nicht spurlos vorübergegangen. Oberförster Kleinschmidt setzt einem das während des Spaziergangs gern auseinander. Wie die Dürre der vergangenen Jahre dazu geführt hat, dass die Fichten und Kiefern nicht mehr genügend Wasser haben, um das Harz produzieren zu können, das den Borkenkäfer abwehrt. Da nützt auch ein verregneter Sommer wenig.
Es geht bei „Shared Landscapes“ allerdings weniger um konkrete Schadensbesichtigung, als vielmehr um grundsätzliche Fragen der Umweltbetrachtung. Beginnend dabei, dass „Landschaft“ ein sehr einhegendes menschliches Konzept von Natur ist. „Ist der Mensch auch Natur?“, lautet wiederum eine bedenkenswerte Frage aus Kindermund, die den Kulturspaziergänger:innen über Kopfhörer zugespielt wird – im Beitrag von Stefan Kaegi, der für die Berliner Station eine Gesprächsrunde unter anderem mit einer Meteorologin, einer Psychoanalytikerin sowie einer brasilianischen Sängerin aufgezeichnet hat, die sich an die meterlangen Schlangen in den Wäldern ihrer Heimat erinnert. Dann doch lieber Moskitos.
Es dürfte ein lohnender Tagesausflug in den Hangelsberger Forst werden, durchzogen von musikalischen Intermezzi, die der US-amerikanische Komponist Ari Benjamin als Naturkonzert inszeniert. Aus insgesamt sieben Performances entsteht ein Kaleidoskop der Wald- und Wiesen-Perspektiven.
Es wird um die Frage gehen, wie barrierefrei die Natur eigentlich ist (im Beitrag von Chiara Bersani und Marco D’Agostin). In der Performance von Émilie Rousset begegnet man einem Landwirt, der sich auf Luxusheu spezialisiert hat. Und das spanische Kollektiv El Cone de Torrefil inszeniert auf einem LED-Screen im Grünen einen Monolog der Natur selbst. Höchste Zeit, dass die auch mal zu Wort kommt.