An den Rändern von Europa
Karl-Markus Gauß möchte keine Zeit verlieren. Kaum hat man ihn begrüßt an diesem frühlingshaften Tag in Salzburg, ist Gauß schon dabei, die Aufmerksamkeit auf Gebäude oder Sehenswertes seiner Heimatstadt zu lenken. Als Treffpunkt war eine der Brücken über der Salzach am Elisabethkai ausgemacht, und schon von weitem kann man ihn erkennen an seinen lockigen grauen Haaren und dem breiten grauen Schnauzer.
Er weist auf die gegenüberliegende Flussseite, dort steht das Christian-Doppler-Gymnasium, wo er zur Schule gegangen ist; er erzählt, wie schwer sich die Salzburger mit dem brutalistischen Bau ihres Heizkraftwerkes tun, an dem wir vorbeigehen.
Er erinnert sich an Spaziergänge mit seinen Eltern im nahen Mirabellgarten; er zeigt auf einer der vielen Wandtafeln, die in Salzburgs Altstadt an Georg Trakl erinnern, den vielleicht größten Dichter der Stadt, der in den ersten Tagen des Ersten Weltkriegs an einer Überdosis Kokain starb; und er sagt, dass er zu dem Werk des anderen großen Schriftstellers, der seine Jugendjahre in der Stadt verbracht hat, nämlich Thomas Bernhard, ein eher distanziertes Verhältnis habe.
In diesem Tempo geht es weiter. Dabei ist Gauß, gleichermaßen Stadtführer und Autobiograf. Ob er seinen Besucher nun zu dem Baum auf dem Mönchsberg führt, unter dem er einst als Schüler die Bücher von Hermann Hesse oder Elias Canetti las. Oder er von der Bäcker-Bacher-Kreuzung erzählt, an der er als Kind immer vorbei ging, auch weil sich eine Bäckerei dort befand.
Gauß ist Salzburg treu geblieben
Diese Kreuzung hat er in seinem Buch „Die unaufhörliche Wanderung“ als einen Ort voller Welthaltigkeit porträtiert. Anders als in so manchen anderen Metropolen, so Gauß, lasse sich hier auf kleinstem Raum „die soziale und kulturelle Vielgestalt des urbanen Lebens“ erkennen.
Karl-Markus Gauß, der an diesem Mittwoch in der Leipziger Nicolai-Kirche den mit 20 000 Euro dotierten Preis zur Europäischen Verständigung erhält, wurde 1954 in Salzburg geboren. Er ist der vierte Sohn eines donauschwäbischen Paares, das aus dem Gebiet der heutigen serbischen Vojvodina stammt und wie die meisten Donauschwaben 1945 flüchten musste.
Der Mozart-Stadt (kein Wort an diesem Tag übrigens über Salzburgs berühmtesten Sohn) ist er sein Leben lang treu geblieben. Gauß hat hier an der philosophischen Fakultät studiert; er hat hier seine Frau kennengelernt, die ihrerseits Südtiroler Wurzeln hat und deren Großeltern in Salzburgs Altstadt den Peterskeller führten.
Und er wohnt mit ihr seit Mitte der neunziger Jahre in einem dreistöckigen Haus auf der Rückseite des Mönchbergs in der Reichenhaller Straße. Ihre Wohnung liegt mit zwei Etagen direkt unter dem Dach, von ihm als „umgekehrtes Schiff“ beschrieben, als Wohnung, die gleichzeitig „etwas Extrovertiertes und etwas Introvertiertes“ habe.
Auch die Reise durch sein Zimmer führt um den Globus
Das ist insofern von Bedeutung, als dass wir zum einen tatsächlich nach unserem Salzburg-Rundgang später bei ihm zuhause ein Glas Wein trinken werden. Doch zum anderen gewährt er in einem seiner jüngsten Bücher freimütig präzise Einblicke in seine Wohnung.
Das Buch heißt „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer” und ist offensichtlich an Xavier de Maestres „Reise durch mein Zimmer“ von 1794 angelehnt. Darin erzählt Gauß unter anderem von den hauseigenen Servietten mit dem Monogramm HK, von einem Brieföffner und einem Globus, von seinem Schreibtisch, natürlich von seinen Büchern, die überall in seiner Wohnung stehen, liegen oder in Regalen bis unter die Decke verstaut sind.
Spätestens an dieser Stelle dürfte sich die eine oder der andere fragen, ob die Welt des Karl-Markus Gauß nicht etwas beschränkt ist. Was prädestiniert ausgerechnet diesen österreichischen Schriftsteller dazu, mit dem Leipziger Preis für Europäische Verständigung ausgezeichnet zu werden?
Doch allein die Reise durch sein Zimmer ist eine Reise auch nach Europa, eine, wie er später in seinem Wohnzimmer sagen wird, „die mindestens so weit in die Welt hinaus führt wie meine anderen Reisen.“
Der Brieföffner beispielsweise bringt Gauß erzählend ins tschechische Zlín, „die erste Stadt der Welt, die vollständig nach den architektonischen Prinzipien des Funktionalismus errichtet worden war“; eine Musterstadt für Arbeiter mit tausenden von würfelartigen Häuschen.
Oder die Servietten: Mit denen taucht er in die Zeit, da die Großeltern seiner Frau in Meran im Jahr 1900 ein Hotel zu führen begannen. Vier Jahrzehnte später wurden sie von den Nationalsozialisten aus Südtirol vertrieben.
Ein Rezeptbuch der Großmutter wiederum erinnert ihn an seine Herkunftsgeschichte. Gauß’ Großmutter entstammte einer armen slowakischen Familie, die im 19. Jahrhundert donauabwärts gezogen war, „um an der alten Militärgrenze der Habsburger etwas Wohlstand zu suchen“.
Die Gegend liegt heute zwischen dem kroatischen Osijek und dem serbischen Vrsac, sie wurde einst von Serben, Kroaten, Rumänen, Ungarn, Slowaken und Donauschwaben bewohnt. Und dazu, wie Gauß ergänzt, „von Juden, die sich zur ungarischen, und Juden, die sich zur deutschen Volksgruppe rechneten, Roma und noch einer Handvoll versprengter Völkerschaften.“
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Allerdings will Gauß den eigenen familiären Hintergrund nicht als beruflich wegweisend verstanden wissen, als ausschlaggebend für seine vielen Reisen auf den Spuren der Roma und vieler anderer, in Vergessenheit geratener Nationalitäten. Sie führten ihn insbesondere an die Ränder Europas, speziell Osteuropas, dorthin „wo die abgewrackte Vergangenheit auf eine Moderne trifft, die hier gleich als Werk von Ruinenbaumeistern errichtet wurde.“
Er sagt, jetzt im „luftigen Oberdeck“ seiner Wohnung an einem großen Tisch sitzend, er habe im Alter von 17, 18 Jahren damit angefangen, Texte aus Zeitungen aufzuheben, in denen es um nationale, ethnische oder religiöse Minderheiten ging. „Schon während meiner Studienzeit ist dabei ein kleines Archiv entstanden. Das war aber völlig absichtslos. Ich war bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr wirklich ein Stubenhocker.“
Den Leipziger Verständigungspreis bekommt er denn auch weniger verliehen für seine sogenannten Journale, von denen es inzwischen sechs an der Zahl gibt, jeweils eine Mischung aus Tagebucheinträgen, Erinnerungssplittern, Aphorismen, Sprach-, Zeit- und Kulturkritik. Sondern für seine zahlreichen Reisebücher.
Er war bei den Sepharden, Gargausen, Aromunen und anderen
Karl-Markus Gauß begann Ende der neunziger Jahre mit seinen Touren, zusammen mit dem Fotografen Karl Kaindl („er tat mir als Fotograf, Freund und Fahrer gute Dienste, Karl fährt sehr gern Auto“, sagt er lachend). Beispielsweise zu den Sepharden in Sarajewo, den Gargausen in Moldau, den Arbëreshe in Kalabrien, den Aromunen in Mazedonien, Montenegro und Serbien, den Ruthenen in der Ukraine oder zu den Roma in der Slowakei.
Oder zu den Zimbern, einer deutschsprachigen Minderheit in Venetien und Trient: „Die sind irgendwann im achten Jahrhundert als Untertanen eines deutschen Bischofs in ein ihm zugefallenes Gebiet in den Dolomiten geschickt worden, haben sich dort in den Dörfern und Tälern bis heute erhalten und sprechen ein Deutsch, bei dem man immerhin ahnt, was sie meinen. Man muss übrigens sagen, und das finde ich sehr faszinierend: Es gibt heute überall auf der Welt mehr Zimbern-Forscher als Zimbern. Die führen wissenschaftliche Kämpfe darüber, was jetzt das Hochzimberische ist, welche sprachlichen Unterarten es gibt etc. Dabei leben gerade noch ein paar hundert Menschen, die diese Sprache sprechen.“
Gauß hat zahlreiche Bücher über seine Reisen geschrieben. Sie sind faktengesättigt, nehmen aber stets auch eine betont subjektive Perspektive ein. Dazu gehören unter anderen „Die sterbenden Europäer“, das erste dieser Bücher, das 2001 herauskam, „Die Hundeesser von Svinia“ von 2004 oder „Zwanzig Lewa oder tot“.
Letzteres wurde 2017 veröffentlicht und handelt von vier Reisen nach Bulgarien, Moldawien und in die Vojvodina. In seinen allerneusten Buch, dem Journal „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“, hat Karl-Markus Gauß es als seine oberste Aufgabe bezeichnet, „jeden Ort, und sei er wie ohne Geschichte, als historischen, kulturell geformten Ort darzustellen.“
Geplant: ein Buch über die Salzach
Es liegt die Frage nahe, wie er sich mit den vielen minoritären Volksgruppen sprachlich verständigt hat. Und ob er gar besonders sprachbegabt sei. „Nein, überhaupt nicht. Ich habe die Fähigkeit, mir innerhalb eines kurzen Zeitraums viele Worte und Phrasen in einer bestimmten Sprache aneignen und merken zu können. Das genügt. Denn so gut wie alle Bevölkerungsgruppen waren begeistert, dass ich ein paar Worte in ihrer Sprache konnte und sie nach ihrem Leben befragt habe. Klar, das war immer ein Crashkurs. Wenn ich dann eins meiner Bücher geschrieben hatte, vergaß ich sofort alles, was ich mir in der jeweiligen Sprache angeeignet hatte.“
Gauß gesteht, dass ihm das Reisen nicht mehr so leicht falle, allein aus Altersgründen. Das Spontane, sich auf den Zufall als treuen Begleiter Verlassende, das habe er nicht mehr. Doch es reicht ja schon, mit ihm in Salzburg umherzuwandern oder in seiner Wohnung zu sitzen bei einer Flasche Grüner Veltliner und seinen Geschichten und Assoziationen zu folgen.
So zeigt er zum Beispiel, noch oben auf dem Mönchsberg stehend, auf das Hotel, in dem sich Jean Améry 1978 das Leben genommen hat – und erzählt, wie er einmal die Hotelleitung nach dem Umgang mit diesem Selbstmord befragt habe: „Ich konnte die Befangenheit nachfühlen, denn man kann da ja keine Tafel aufhängen.“
Oder er lenkt den Blick auf eins der wenigen Häuser auf dem Kapuzinerberg, das Helene Fischer gerade erworben haben soll. Oder erzählt von seinen Fahrten nach Odessa: von den vielen herrlichen Museen dort – und den vielen großen, schwarzen, bösen SUVs, die keine Verkehrsregeln kennen, deren Nummern in der Regel auf 777 enden und die entweder Wagen des organisierten Verbrechens oder der Staatsanwaltschaft sind.
Schließlich kündigt er noch an, ein Buch über die Salzach zu schreiben zu wollen, Geschichten über diesen Fluss von der Quelle bis zur Mündung, über die Menschen an seinen Ufern früher und heute. „Es soll das Bildnis eines nicht berühmten Flusses werden.“
Sicher vermag er auch dann wieder diesem Ort, diesem Fluss „seine Zeit, Zeitfähigkeit, Zeitwürdigkeit“ zu geben, wie er es vor kurzem formuliert hat. Denn die Zeit, die hat Karl-Markus Gauß auf seinen Reisen und in seiner Heimatstadt noch immer gefunden.