Der Psychopath und der Priester

Der charismatische Psychopath Michio und der widersprüchliche katholische Priester Garai überleben als Einzige einen von den Verantwortlichen vertuschten Giftgasunfall auf einer winzigen Insel. Ihre erodierende Beziehung gründet auf Missbrauch und Manipulation.

Eine weitere Seite aus „MW“.Foto: Carlsen

Mit Bezugnahmen auf die Diskriminierung Homosexueller, linksradikale Studentengruppen zu Zeiten des Vietnamkrieges und das reale Nervengasunglück auf Okinawa 1969 ist der packende Manga „MW“ ein herausragender Vertreter des Gekiga-Genres. Jetzt hat der Hamburger Carlsen-Verlag eine Gesamtausgabe aller drei Bände im Hardcover in westlicher Leserichtung veröffentlicht (Übersetzung John Schmitt-Weigand, 584 S., 28 € ).

Nach einem heimtückischen Mord an einem kleinen Jungen und seinem Vater versteckt sich Michio einmal mehr bei dem Priester, der sich vor der Polizei auf seine Schweigepflicht beruft. Doch tut dieser noch mehr. Er spricht mit den Ermittlern, während Michio, ein Meister der Verkleidung und Bruder eines bekannten Kabuki-Schauspielers, als Nonne verschwindet.

Garai will danach nicht mehr so weitermachen. Er verlangt, dass Michio sich stellt und will sich selbst exkommunizieren lassen. Den Reizen und manipulativen Verführungen des zerstörungswütigen Jüngeren ist er allerdings nicht gewachsen und so bleibt zunächst alles wie gehabt …

Die Beziehung der beiden ambivalenten Figuren begann 15 Jahre vor dieser initialen Szene. In den 1960er Jahren war der leicht beeinflussbare Garai Teil einer marodierenden Studentengruppe, die eine kleine Insel tyrannisierte, nachdem ihr Plan, ein ausländisches Militärdepot zu überfallen, gescheitert war.

Mehr als „Astro Boy“ und „Kimba, der weiße Löwe“

Zu jener Zeit kam zufällig auch Michio Yuki, der unschuldige Spross einer reichen Familie auf die Insel und wurde von der Clique gekidnappt, um Lösegeld zu erpressen. Durch eine Fügung des Schicksals sollte Garai in einer abgelegenen Höhle auf den hübschen Jungen aufpassen.

Osamu Tezuka.Foto: Carlsen

Am nächsten Tag bot sich den beiden ein grausames Szenario: Sämtliche Bewohner der Insel und alle Besucher waren tot. Alles Leben war durch das Austreten eines giftigen Gases namens MW aus dem Militärdepot ausgelöscht worden und auch Michio zeigte erste Anzeichen einer Vergiftung. Garai und der Junge flohen mit einem Boot von der Insel. Der Unfall wurde vertuscht.

Osamu Tezuka, der aufgrund seiner Verdienste um die Entwicklung des Bildgeschichten-Mediums oft als „Gott des Manga“ bezeichnet wird, schuf nicht nur kindgerechte, relevante Werke wie „Astro Boy“ und „Kimba, der weiße Löwe“, sondern auch Geschichten für ein erwachsenes Publikum.

Mit „MW“ ging er Mitte der 1970er Jahre noch einen Schritt weiter in Richtung der Gekiga-Bewegung und bildet in der verschachtelt erzählten Geschichte unter anderem explizit Homosexualität und Vergewaltigung ab.

Sein ausdrucksstarker Zeichenstil ist deutlich weniger disneyartig und mehr realitätsorientiert, kommt aber trotz der Thematik nicht komplett ohne humoristische Darstellungen aus. Die unverhohlenen Sexszenen driften teilweise sogar ins absurd Groteske ab.

Schmaler Grat zwischen Genie und Wahnsinn

Osamu Tezuka kreiert einen komplexen, oft stark überzeichneten und überstürzten Psychothriller über Schuld und Sühne, Religion und Sünde sowie eine von Gewissenlosigkeit und Verlogenheit durchsetzte Gesellschaft mit widersprüchlichen, amoralischen Protagonisten.

Das Titelbild von „MW“.Foto: Carlsen

Die Spiegelung der Seiten, die für die deutsche Ausgabe erfolgt ist, um das Werk westlichen Sehgewohnheiten anzupassen, stört leider an einigen Stellen die Kontinuität, da die filmhafte Seitenkonzeption der japanischen Leserichtung angepasst ist.

Die Figuren, die Tezuka geschaffen hat, sind schwierig zu greifen. Michios Handlungen etwa wirken manchmal willkürlich und sprunghaft. Vielfach scheint es, als träfe er Entscheidungen aus einem kindlichen Trieb heraus, dann wieder wirkt er völlig abgebrüht.

Dieser Balanceakt führt seine geschundene Seele auf einem schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn zum monströsen, offensichtlich fiktiven Finale und den Beobachtenden manchmal an die Grenzen des Einfühlungsvermögens.

In „MW“ greift Osamu Tezuka dabei übrigens auf sein metafiktionales Star-System zurück, für das er wiederkehrende Figuren in verschiedenen Werken in vergleichbaren Rollen wie Schauspieler einsetzte, so die Unwirklichkeit der Handlung sichtbar macht und die Lesenden in die Realität zurückholt.

So taucht etwa der legendäre abstruse Comic-Relief Hyotan-Tsugi, eine Mischung aus Schwein und Pilz, in einer Szene auf, und der schnurrbarttragende Ban Shunsaku spielt als Kneipenbesitzer mit. Bekannt wurde die Figur als Freund und Lehrer von Astro Boy, spielte aber auch in „Metropolis“, „Black Jack“ und vielen anderen Werken wichtige Rollen.