Plädoyer für eine neue Gemeinschaft: Wie wir rechte Wähler zurückgewinnen können

Was sind das für Menschen, die eine rechtsradikale Partei wie die AfD wählen? Europa, das große Friedensprojekt nach 1945, geopfert auf dem Altar von Nationalisten, denen jede NLP-Finte recht ist, um Stimmen zu fangen. Bei den Unter-24-Jährigen ist die AfD die zweitstärkste Kraft. Das macht mich nicht nur wütend, es macht mir Angst.

Ich stelle mir Alice Weidel vor, wie sie mich verachten würde, läse sie diese Zeilen. Oder die 16 Prozent, die überzeugt sind, das Kreuz an der richtigen Stelle gemacht zu haben. Die weder meine Wut, meine Sorge, geschweige denn meine Angst verstehen würden. Die sich nicht gehört fühlen, mit ihren Problemen nicht verstanden, und für die Menschen wie ich ein Feindbild sind. Ich, mit meiner Migrationsbiografie, meinem privilegierten, auch von Steuergeldern finanziertem Beruf als linker Künstler.

Zum ersten Mal kann ich mir vorstellen, dass der Tag kommen könnte, an dem ich dieses Land mit nur einem Koffer in der Hand überstürzt verlasse, weil ich sonst um mein Leben bangen müsste. Meine Angst ist real, aber Alice Weidel und die Mehrheit ihrer Wähler sind mir in diesem Moment egal. Aus purem Trotz verachte ich auch sie für ihr feindseliges Menschenbild. Nicht aber die Unter-24-Jährigen. Ich weiß, ich habe Mitschuld an ihrer Verirrung. 

Natürlich tragen sie selbst die Verantwortung für ihr Handeln, sie sind mündige junge Menschen. Versagt haben wir, die Generationen der Eltern, Tanten, Onkel, Großeltern, Lehrerinnen, Erzieher, Ausbilder, Professorinnen. Wir haben versäumt, den Jungen einen humanistischen Kompass an die Hand geben.

Zum ersten Mal kann ich mir vorstellen, dass der Tag kommen könnte, an dem ich dieses Land mit nur einem Koffer in der Hand überstürzt verlasse, weil ich sonst um mein Leben bangen müsste.

Marc Sinan

Wir müssen zugeben: Für keine der wesentlichen Fragen haben wir adäquate Lösungen zur Hand. Die Welt wird in zehn, 20, 50 Jahren nicht weiter so funktionieren wie heute. Der Klimawandel wird sich so nicht aufhalten lassen. Die Verteilungsungerechtigkeit wird sich nicht in Luft auflösen. Das Leben wird sich nicht entschleunigen. Der Frieden wird nicht wie ein Wunder über uns kommen, der Hunger nicht enden, nicht die Wohnungsnot, die Altersarmut, der Bildungsnotstand, die Gesundheitsversorgung, die Pflege, der Migrationsdruck.

Aus Erfahrung wissen wir: Wenn Probleme zu groß werden, muss man sich mit Teilproblemen beschäftigen. So funktioniert Wissenschaft, so funktionieren Musizieren wie Küche aufräumen – so funktioniert unser ganzes Leben. Warum wenden wir dieses Wissen nicht auf die Gesellschaft an?

An diesem Punkt muss sich jeder von uns überlegen, was er dazu beiträgt, dass die europäische Küche in Ordnung kommt und die Unter-24-Jährigen ein Gefühl entwickeln, was richtig und vor allem: was falsch ist. Dass die Demokratie als System vielleicht nicht perfekt ist, aber unübertroffen, und dass Zusammenhalt mehr verspricht als Nationalismus, Egoismus, Faschismus, Radikalisierung.

Den rechten Wählern fehlt die Fähigkeit, in einer überfordernden Welt, die roten Linien zu erkennen, die bestimmte Meinungen und Haltungen ausschließen. Sie rütteln damit an den Grundfesten dessen, was wir aus den großen Katastrophen der Menschheitsgeschichte lernen könnten. Für diese Form der Erinnerung fehlen uns gegenwärtig die Mittel. Es reicht nicht aus, in der Schule am Geschichtsunterricht teilgenommen zu haben, um die Notwendigkeit humanistischer Überzeugungen zu verinnerlichen.

Wie schaffen wir es, dass Gemeinschaft entsteht?

Wir leben in einer Gesellschaft, die diese Mittel zurückgewinnen muss. Ich spreche von einer Kultur der wahrhaften Begegnung, einer Kultur des gemeinsamen Feierns, Trauerns und Erinnerns. Wie schaffen wir es, dass die Welle das Stimmband verlässt, sich durch den Raum bewegt, dass Trommelfelle angeregt, Hirne und Seelen in Schwingung geraten, Hormone ausgeschüttet, deformierte Zellen geheilt werden und Gemeinschaft entsteht? 

Wir müssen auf die Straßen. Die Fenster aufreißen. Mit den Töpfen klappern. Lieder singen. Gemeinsam streiten, uns wieder versöhnen, Gedenken üben, Weinen und Lachen, Lachen, Lachen. Das Leben feiern. Wir benötigen einen kulturellen Raum, der den Menschen mehr zu geben vermag als die ständig verfügbare Droge der Zerstreuung und des Verdrängens.

Wenn ich von einem Beitrag spreche, den ich leisten könnte, kann ich nur über mein Feld sprechen: die Musik. Sie ist die sozialste aller Künste. In fast allen Fällen müssen Menschen zusammenarbeiten, um Klänge entstehen zu lassen. Musikerinnen, Komponisten, Instrumentenbauer, Architektinnen, Veranstalterinnen und Zuhörer. Laien, Amateure und Professionelle. Es bedarf einer Verzahnung zahlreicher menschlicher Fähigkeiten, bis ein Ton, ein Akkord, ein Klang entsteht.

In den seltensten Fällen entsteht Musik ohne Anlass. Gemeinschaft und Erinnerung gehören zu den erhabensten Motiven. Die Theater, Säle und öffentlichen Plätze sollen wir verwandeln in Kathedralen der Gemeinschaft. Orte der Teilhabe, der Rituale. Wir haben sie nicht! Die Kinos, die Theater und Kirchen sind leer. Religionen und Ideologien scheitern an der Gegenwart. In unserer vielstimmigen Gesellschaft trennen sie uns eher, als dass sie uns verbinden. Wir sitzen vereinzelt hinter Bildschirmen mit einer Diagonale von 12 Zentimetern.

Lasst uns einen Soundtrack erfinden, der verständlich ist und komplex, direkt und verfeinert, voller Pathos, Zärtlichkeit, Humor, Grandiosität, Abgrund, tanzbar, singbar, abgehoben und geerdet. Lasst uns Geschichten erzählen in allen Farben und Schattierungen und das musikalisch ausdrücken, was wir nicht in Worte fassen können. Und dann lasst sie uns vergessen und das Erinnern erinnern. Den leisen, zarten Tönen jenseits der Betäubung unserer Überforderung nachhören.

Darf ich euch in aller Demut fragen:
Warum tut ihr, was ihr tut? 
Was habt ihr beizutragen?