DFB soll sich für Wiedergutmachungsfonds einsetzen
Neun Monate. Zwölf Stunden täglich. Und keinen einzigen freien Tag. So schildern Arbeiter den Bau eines Hotels in Doha. Dort werden in wenigen Monaten tausende fußballbegeisterte Tourist*innen übernachten, um möglichst kurze Wege zu den WM-Stadien zu haben. „Um unsere Arbeitszeiten geheim zu halten, wurden wir daran gehindert, uns abzumelden und zu stempeln. Ich war am Rande des Wahnsinns“, sagt ein Arbeiter.
Seine Schilderung ist Teil eines Berichts vom Internationalen Forum für Arbeitnehmerrechte GLJ-ILRF, der kürzlich veröffentlicht wurde und der die Situation von Arbeitsmigrant*innen in katarischen Hotels zwischen 2020 und 2022 dokumentiert.
Ausbeutung, Diskriminierung, sexualisierte Gewalt sowie Gesundheits- und Sicherheitsrisiken – die Liste an „erheblichen Arbeits- und Menschenrechtsverletzungen“, so der Bericht, ist lang. Arbeiter*innen werden systematisch Grundrechte verwehrt, viele schildern, dass sie in ständiger Angst lebten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren oder sogar abgeschoben zu werden.
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Auch Wenzel Michalski von Human Rights Watch (HRW) sagt: „Wer zur WM fährt, muss davon ausgehen, dass der Kellner beim Frühstück im Hotel sehr schlecht bezahlt wird und eine bitterarme Familie versorgen muss. Und er muss davon ausgehen, dass das Hotel von Menschen unter sklavenähnlichen Verhältnissen gebaut wurde und dabei Menschen sogar zu Tode gekommen sind.“
Denn nachdem Katar den Zuschlag für die Fußball-Weltmeisterschaft erhalten hatte, stampfte das Emirat die komplette Infrastruktur aus dem Boden. Die Last dieses Projektes trugen in erster Linie Arbeiter*innen, die im Rahmen des Kafala-Systems aus Ländern wie Nepal, Sri Lanka und Bangladesch nach Katar kamen und dort unter katastrophalen Bedingungen arbeiten mussten. Berichten von Amnesty zufolge waren sie extremer Hitze ausgesetzt und in lagerartigen Massenunterkünften ohne Zugang zu angemessener Wasserversorgung untergebracht.
Mittlerweile hat Katar zwar Reformen ergriffen, in der Realität scheitern diese allerdings häufig an der Umsetzung, wie Berichte zeigen. Mindestens 15.000 Menschen sind seit Vergabe der WM im Zusammenhang mit den Bauarbeiten gestorben.
„Es ist ein Teufelskreis“
Das hat auch Konsequenzen für die Familien in den Herkunftsländern, die der Tod ihrer Hauptverdiener oftmals in extreme Armut stürzt. „Obwohl es im katarischen Gesetz verboten ist, müssen viele Arbeiter sogenannte Arbeitsvermittlungsgebühren bezahlen“, berichtet Michalski. „Das sind zum Teil über 1000 Dollar.“ Wenn ein Arbeiter aus Nepal auf der Baustelle stirbt und seine Gebühren noch nicht abbezahlt hat, muss die Familie diese übernehmen. „Das stürzt viele ins Unglück.“
Die horrenden Gebühren sind maßgeblich auf die intransparent auftretenden privaten Agenturen zurückzuführen. Diese grenzübergreifend agierenden Unternehmen bieten für viele Arbeiter oftmals den einzigen Weg, sich selbst und ihren Familien zu einem besseren Auskommen zu verhelfen; ihre Machenschaften sind jedoch allzu oft nichts anderes als moderner Menschenhandel.
„Es ist ein Teufelskreis“, sagt Michalski. Der Vater gehe nach Katar in der Hoffnung, so viel Geld zu verdienen, dass er seinen Kindern die Schulbildung ermöglichen könne und diese nicht irgendwann in der gleichen Situation seien wie er – vergebens. „Er wird in Katar ausgebeutet, kann die Familie nicht versorgen, und die Kinder können nicht zur Schule. Die Familie bleibt in Armut.“
Wie gravierend die Folgen besonders für Kinder sein können, verdeutlicht der jüngste Bericht von Human Rights Watch. Daraus geht hervor, dass die Familien häufig keine andere Wahl haben, als ihre Kinder früh zu verheiraten oder zur Arbeit zu schicken. HRW fordert deshalb, dass die katarische Regierung und die Fifa einen Wiedergutmachungsfond einrichten.
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Dieser soll nicht nur Familien entschädigen, die ihre Angehörigen verloren haben, sondern auch Arbeiter, die sich so schwer verletzt haben, dass sie arbeitsunfähig sind, damit ihre Kinder weiter zur Schule gehen und sie ihre Familien ernähren können. „Der DFB und andere Verbände sollten diese Forderung unterstützen“, fordert Michalski. „Viele Verbände sind diesbezüglich noch zu zurückhaltend, deswegen ist es so wichtig, dass der DFB vorangeht und andere sich daran ein Beispiel nehmen können.“
Teilweise gebe es bereits Reparationszahlungen von Seiten der katarischen Regierung, von denen bereits einige Familien profitiert hätten. „Das Problem ist, dass diese erst seit kurzem gültig sind. Die Familien der Männer, die vor einigen Jahren gestorben sind, werden nicht entschädigt.“
Katar klärt Todesfälle nicht auf
Auch Herkunftsländer wie die Philippinen oder Nepal haben bereits Reparationsfonds eingerichtet, allerdings ist es schwierig, diese in Anspruch zu nehmen. „Viele wissen davon nichts oder kommen mit den bürokratischen Hürden nicht klar, weil sie keine Schulbildung hatten. Die meisten Dokumente in Katar waren lange nur auf Arabisch verfasst und nicht in den Sprachen der migrantischen Arbeiter.“
Und noch etwas anderes kommt hinzu: Bisher hat Katar es versäumt, die Todesfälle umfassend zu dokumentieren und aufzuklären. Stattdessen werden sie auf „natürliche Ursachen“ oder Herzinfarkte geschoben, was angesichts der Tatsache, dass es sich bei den Verstorbenen größtenteils um junge Männer handelt, wenig glaubwürdig erscheint.
Selbst bei Personen, die unter „ungeklärten Gründen“ gestorben seien, ließen sich entsprechende Rückschlüsse ziehen, sagt Michalski. „Viele kommen abends zurück, nachdem sie unter extremer Hitze gearbeitet haben und wachen am nächsten Morgen nicht auf, weil sie zum Beispiel einen Hitzschlag bekommen haben.“ In solchen Fällen ließe sich rückverfolgen, dass sie vorher zum Beispiel bei 42 Grad ein Dach reparieren mussten. „Die Familie hat also Anspruch auf Entschädigung.“