Kapellmeister in Pink

Ein Glück, dass es um die Jahrtausendwende noch nicht die technischen Möglichkeiten von heute gab. Womöglich wären die Gorillaz sonst 20 Jahre vor Abba auf den Trichter gekommen, ihre Konzerte von perfekt animierten Bühnenavataren bestreiten zu lassen – und die Welt hätte eine großartige Live-Band verpasst, die an einem schwülheißen Juniabend rund 10000 Zuschauer in der Parkbühne Wuhlheide zu orkanartigem Beifall hinreißt.

Avatare wären naheliegend gewesen (tatsächlich haben sie mit hybriden Konzertformaten experimentiert), sind die Gorillaz doch „in echt“ eine virtuelle Band aus vom britischen Zeichner Jamie Hewlett erdachten Comicfiguren, die in originellen Videoclips die von echten Menschen erdachte und gespielte Musik visualisieren. Die Gorillaz sind die perfekte Youtube-Band, nur dass es sie bereits seit sieben Jahren gab, als das die Popwelt revolutionierende Videoportal 2005 online ging.

Sieger in der zweiten Runde

Der musikalische Kopf hinter den Gorillaz war und ist Damon Albarn, und man muss sich nur die Gegenwart seines einstmals größten Konkurrenten vor Augen führen, um zu ermessen, was für einen erstaunlichen Karriereweg er im letzten Vierteljahrhundert zurückgelegt hat: Liam Gallagher, Sänger der sagenhaft erfolgreichen Britrock-Band Oasis, die Mitte der Neunziger gegen Albarns Band Blur einen Art Kulturkampf auf der Insel ausfochten (und gewannen), hat kürzlich eine neue Platte veröffentlicht.

Auf der kämpft er als ewiger Wiedergänger seines jüngeren Selbst gegen das Vergessenwerden, mit Songs, die „nicht beim Bierholen stören dürfen, wenn Liam sie live zwischen den Oasis-Klassikern singt.“ (Radioeins-Moderator Torsten Groß im Tagesspiegel). Natürlich wird Gallagher für orthodoxe Oasis-Fans immer der Größte bleiben. Außerhalb dieser Blase ist er bedeutungslos.

Damon Albarn hingegen ist über die begrenzte 90er-Britpop-Reichweite von Blur hinausgewachsen und zu einer der prägenden Pop-Figuren des frühen 21. Jahrhunderts geworden, indem er seine Kreativität in Projekten mit Musiker:innen mehrerer Kontinente getestet hat. Das bei weitem erfolgreichste davon sind die Gorillaz, auch wenn die Wuhlheide mit ihren 17000 Plätzen doch eine Idee zu groß ist.

Was angesichts der tropischen Temperaturen aber wohltuend ist. Man möchte sich dieses Event nicht in einer aufgeheizten, ausverkauften Halle vorstellen. Unter freiem Himmel kann man in der locker gefüllten Arena das Warten gut aushalten, bis die Gorillaz um 21 Uhr die Bühne betreten und das Publikum mit dem tosenden Postpunk-Opener „M1 A1“ spontan auf Betriebstemperatur bringen. Albarn, pinke Shorts, hellrosa T-Shirt überm Lockdown-Bäuchlein, Truckerkappe, gibt sehr entspannt den Kapellmeister der vorbildlich divers besetzten zwölfköpfigen Band.

Soli sind nicht vorgesehen

Zu seiner Linken wirft sich Jeff Wootton mit seiner Flying V in ironische Gitarrenheldenposen (keine Sorge, Soli sind bei den Gorillaz nicht vorgesehen), rechts energiebündelt Seye Adelekan, gleichfalls pretty in Pink, am Bass, während die drei Schlagwerker unwiderstehlich groovende Rhythmusteppiche ausrollen und das Background-Quintett Albarns melancholisches Geknödel stimmlich ausbalanciert.

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Zu den Songs – die Setlist umfasst schwerpunktmäßig Stücke der ersten drei Gorillaz-Alben sowie des 2020 erschienenen „Song Machine, Season One: Strange Timez“ – laufen auf einer Leinwand die jeweiligen Videos, was den schönen Effekt ergibt, dass Albarn gelegentlich lippensynchron zu seinem Comic-Alias „2-D“ singt. Die Stücke, vor allem jene des Öko-Konzeptalbums „Plastic Beach“, kreisen oft um dystopische Themen, allerdings in ironischer Distanzierung und ohne den pessimistischen Grundton zeitgenössischer Klimakontroversen.

Insofern stellt es keinen allzu großen Widerspruch dar, dass alle Gorillaz-Songs als Soundtrack einer gigantischen Open-Air-Party funktionieren, ob sie nun gemächlich rollen wie „Last Living Souls“, Brücken zum Golden Age des Hip-Hop schlagen wie „Dirty Harry“ mit Westcoast-Rapper Bootie Brown von The Pharcyde am Mikro, von forschen Elektrobeats propellert werden wie „Stylo“ oder im Gewand einer Klavierballade angeschlichen kommen wie „The Pink Phantom“, auf dem Elton John – natürlich nur im Video – mit Albarn um die Wette klimpert.

Comeback der Vuvuzela

Ohnehin ist das Gaststar-Aufkommen weniger spektakulär als bei früheren Tourneen, was aber nichts ausmacht, solange die Band so gut drauf ist. Albarn wirkt sowieso wie auf Wolke Sieben, klettert immer wieder, vom starken Arm eines Ordners gestützt, auf einem Absperrgeländer ins Publikum, nestelt auf der Melodica herum oder trötet sinnfrei, aber lustig in eine riesige Vuvuzela. Bei allem Rumgekasper drängt er sich aber nie in den Vordergrund, lässt allen Raum zum Glänzen, ist charmant und bar jeglichen Rockstargehabes.

Natürlich kennen die Gorillaz die Regeln des Konzertgeschäfts und heben sich für die Zugabe ein paar besondere Highlights auf. „Feel Good Inc.“ macht seinem Titel alle Ehre und wird mit den Raps von Posdnuos von der legendären Hip-Hop-Formation De La Soul (ohne deren bahnbrechende Sampling-Sinfonien die Gorillaz schwer vorstellbar wären) zum alle Dämme einreißenden Glücksmoment, bei dem sich der Innenraum der Parkbühne in einen friedfertigen Moshpit verwandelt.

Der tonnenschwere Zeitlupen-Dub von „Clint Eastwood“, jenem Hit, mit dem die Gorillaz 2001 weltbekannt wurden, nimmt nochmal das Tempo raus, ehe der furiose Raggamuffin-Remix des Songs die Menge ein letztes Mal derwischtanzen lässt und knapp zwei Stunden Endorphin-Druckbetankung ein umjubeltes Endes finden.