Formlose Nacht in neuer Welt
Weiße Polizisten halten einen schwarzen Mann an. Sie verdächtigen ihn, nehmen ihn fest. Schlagen ihn, könnten ihn töten. Tun das manchmal auch. Er hat keine Chance, sich zu wehren. Was in den USA der „Jim-Crow“-Gesetze zum Alltag gehörte, vor der Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre, ist für schwarze Menschen auch heute eine ständige Gefahr. Jede*r cop und jede*r Schwarze kennt die Zauberworte, die gewalttätigen Polizist*innen einen Persilschein verschaffen: „I feared for my life.“ „Ich habe um mein Leben gefürchtet.“
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Richard Wrights Roman „Der Mann im Untergrund“ beginnt mit genau so einem Szenario. Samstagabend: Fred Daniels, Hausangestellter bei der (mutmaßlich weißen) Familie Wooten, hat eine Woche lang dort geschuftet und tritt nun den Heimweg an. Er zählt sein frisch verdientes Geld, denkt an seine schwangere Frau und den Gottesdienst am Sonntag, freut sich seines Lebens – bis drei weiße Polizisten ihn anhalten. Ein Ehepaar ist umgebracht worden, die Peabodys, im Haus nebenan. Dass Daniels den Mord begangen hat, steht für die Polizisten von Anfang an fest.
Daniels versucht, die Polizisten von seiner Unschuld zu überzeugen – was für sie nur seine Schuld bestätigt. Alle Namen, auf die er sich beruft – Reverend Davis, der Kirchenchor, die Wootens – , bewirken das Gegenteil. „Hast es dir genau zurechtgelegt, wie, Junge?“ Auf dem Revier schlagen ihn die Polizisten bewusstlos, mit Fäusten, mit Schlagstöcken. Sie feuern sich an, gratulieren einander für die zugefügten Schmerzen.
Szenen auf dem Revier fehlen
Zu viel Polizeigewalt für das weiße Publikum, befanden damals die Verleger von Harper & Brothers. So schildert es der Enkel des Autors, der Filmemacher Malcolm Wright, im Nachwort. Deshalb gab es den Roman bislang nur als Kurzgeschichte. Die Szenen auf dem Revier fehlen darin. In der Geschichte seiner Publikation wiederholt sich also der Rassismus, den der Roman zum Thema hat.
Richard Wright war einer der einflussreichsten schwarzen Autoren der USA. Mit „Native Son“ hatte er 1940 einen Bestseller geschrieben, und dieser Nachfolgeroman sollte daran anknüpfen. „Der Mann im Untergrund“ versprach allerdings weniger Erfolg als das von Wright in „Native Son“ geschilderte Schicksal des schwarzen Doppelmörders Bigger Thomas, der sich am Ende mit seiner Schuld versöhnt. Denn Daniels ist nicht nur unschuldig – sondern wird verrückt beim Versuch, sich zu versöhnen. Nach der Folter unterschreibt er ein falsches Geständnis. Durch die Unachtsamkeit der Polizisten kann er aber bald darauf fliehen. Damit sie ihn nicht finden, öffnet er einen Gullydeckel und lässt sich fallen, „hinab in die rauschende, wässrige Schwärze des Untergrunds“.
Traditionelles Motiv
Dieser „Untergrund“ ist ein traditionelles Motiv der US-Literatur. Die Essayistin Imani Perry weist darauf hin, dass der Name Fred Daniels dem von Frederick Douglass ähnelt. Dieser war Abolitionist und Sklave, befreite sich mit falschen Papieren selbst und verfasste mit „Narrative of the Life of Frederick Douglass, an American Slave“ eine Autobiographie, auf die sich viele schwarze Autor*innen beziehen. Und mit dem „Untergrund“ klingt die „Underground Railroad“ an: ein konspiratives Netzwerk, das geschätzt 100 000 Sklav*innen zur Flucht verhalf. Colson Whitehead hat vor ein paar Jahren einen Roman darüber geschrieben.
Auch Wrights Protagonist Fred Daniels schützt der (buchstäbliche) Untergrund, bietet ihm ein Versteck; er verliert dort jedoch seine Identität. „Und dann überwältigte ihn eine merkwürdige neue Erkenntnis: Er war alle Menschen. Auf eine unaussprechliche Wiese war er alle, und sie waren er.”
Er vergisst seine Frau, sein Kind, seine Arbeit; er irrt durch die Gänge und Röhren, erblickt benommen ein schwarzes, totes Baby, das an ihm vorbeigespült wird, er raubt einen Tresor aus und tapeziert die Wände seiner Höhle mit dem Geld. Er entdeckt die Gesellschaft von unten und wird dabei selbst nie entdeckt.
In anderen Erzählungen wäre das ein magischer Kniff, um den Protagonisten über das Andere wieder zu sich selbst zu führen. Hier führt die Gegenwelt in den zersplitterten Kern eines gebrochenen Menschen. Ein Selbst hat er nicht mehr.
Jeden Tag droht die Apokalypse
Seine Großmutter, die ihn aufzog, sei Siebenten-Tags-Adventistin gewesen und habe jeden Moment mit der Apokalypse gerechnet, schreibt Wright in einem Essay, der dem Roman anhängt. Ihr Glaube sei mit den Gegenständen des Alltags kollidiert, mit Blues-Musik oder weltlichen Büchern. „Er war launenhaft, zerrissen, zerbrechlich, die täglichen Notwendigkeiten des Lebens zerstückelten ihn. Zugleich habe er „die Dinge ihrer Umgebung zu einem sinnhaften Wertgebilde“ verbunden: Paradies, Erlösung, Hölle. Eine allegorische Lebensweise, für die die Dinge „keine wirkliche Bedeutung“ besitzen. Die ihnen eher zufällig eine zuweist – weil die, die so lebten, wissen, „dass diese Welt nicht für sie war.“
So charakterisiert Wright nicht nur das Denken seiner Großmutter, sondern das von „Millionen von Schwarzen in Amerika“. Eine Geschichte über sie fange erst dann wirklich an, wenn sie die Details ihres individuellen Lebens hinter sich lasse. Mit anderen Worten: „wenn mein Protagonist zerbrach“.
Durch Prügel zerbrochen
Fred Daniels zerbricht durch Prügel. „Er hatte das entsetzliche Gefühl, dass diese Männer sogar wussten, was er in jedem zukünftigen Moment seines Lebens tun würde, ganz gleich, wie lange er lebte.“ Daniels fügt sich ihrer Macht – und nimmt sie schließlich ernster, als sie sich selbst nimmt. Er übersteigt ihren Wahn, hält bald jeden Menschen für schuldig. Der Untergrund lässt ihn die alten Bedeutungen lösen und nach einem kruden Messianismus neu ordnen.
Diesen schizophrenen Zustand begreift Wright als Grundlage zur Freiheit, ohne dabei ein Plädoyer für Polizeigewalt zu halten. Der traumhafte Raum des Untergrunds dient Wright und seinem Protagonisten vielmehr dazu, die rassistische Fremdbestimmtheit zu überwinden; „sich in eine formlose Nacht werfen und eine neue Welt schaffen“. Die Kunst ist der erste Ort, um Gewalt zu besiegen.
Richard Wright: Der Mann im Untergrund. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Löcher-Lawrence. Kein und Aber Verlag, Zürich 2022 240 S., 24 €