Spielzeitauftakt an der Berliner Volksbühne: Raven mit Thomas Bernhard
Das ist doch mal ein Spielzeit-Auftakt: Zu Beginn von Julien Gosselins „Extinction“ in der Berliner Volksbühne wird man zu einer Rave-Party geladen. Die ist bereits in vollem Gange, während man den Theatersaal betritt. Das Publikum ist frei, sich unter die Tanzenden auf der Bühne zu mischen oder vom Parkett aus zuzuschauen. Die Türen bleiben offen, sodass man die Beats alternativ sogar aus sicherer Foyer-Distanz hören und – sehr zuschauerfreundlich – jederzeit Getränkenachschub besorgen kann.
Nach einer knappen Dreiviertelstunde schälen sich – man sieht es auf einem Screen über den Köpfen der Tanzenden – zwei junge Frauen aus der Menge heraus. Sie solle dringend in Wolfsegg anrufen, legt die eine der anderen nahe. Und Kenner der (österreichischen) Literatur assoziieren natürlich sofort: Thomas Bernhard!
Wolfsegg – das ist der piefige, beklemmende Heimatort von Franz-Josef Murau, dem Protagonisten von Bernhards Roman „Auslöschung“, von dem sich Gosselins Abend – „Extinction“ – auch den Titel leiht.
In diesem Roman löst die Nachricht vom Unfalltod der Eltern und des Bruders beim in Rom weilenden Murnau eine Art sarkastischen Bewusstseinsstrom aus, der in bester Bernhard-Manier von der konkret familiären zur allgemeinen (nationalsozialistischen) Vergangenheit schwenkt und zurück.
Das Stück sorgte schon in Avignon für Furore
In der Volksbühne aber ist an der Wolfsegg-Stelle erst einmal Pause – die erste von zweien an diesem insgesamt fünfstündigen Abend, der im Sommer bereits bei den koproduzierenden Wiener Festwochen und dem Festival d’Avignon für Furore sorgte. Und zwar zu Recht!
Denn was der 36-jährige französische Regisseur, der mit sehr besonderen Romanadaptionen von Michael Houellebecqs „Elementarteilchen“ oder Roberto Bolaños „2666“ bekannt wurde, hier zeigt, ist wirklich absolut außergewöhnlich.
Und es unterscheidet sich komplett von dem Vorgänger-Abend „Sturm und Drang“ aus der vergangenen Spielzeit, in dem Gosselin Goethe mit Thomas Mann und sein französisches Ensemble mit alten und neuen Volksbühnen-Protagonisten von Martin Wuttke bis Benny Claessens zu einem Abend zusammensampelte, der eher an eine leicht untertourige Coverversion eines Frank-Castorf-Abends erinnerte.
International gefeierter Regisseur
Auch diesmal arbeitet Gosselin mit einem gemischten Ensemble aus seiner Truppe und Volksbühnen-Akteurinnen, vom Rosa-Luxemburg-Platz sind Rosa Lembeck und Marie Rosa Tietjen in tragenden Rollen dabei. Aber epigonal wirkt hier gar nichts, im Gegenteil: „Extinction“ ist der Abend, der auch dem Berliner Publikum vollumfänglich erschließen dürfte, wofür der junge Regisseur international gefeiert wird.
Im zweiten Teil befinden wir uns erneut auf einer Party, jetzt aber aus maximaler Distanz. Die Bühne ist ein fürs Publikum schwer einsehbarer Salon. Was darin geschieht, fügt sich auf dem Screen zu einem schwarz-weißen Live-Film zusammen – und zwar in einer cineastischen Qualität und Perfektion, die diese inzwischen zur Theater-Routine gehörende Methode tatsächlich in eine neue Dimension katapultiert.
Bevor der Abend im dritten Teil wieder bei Thomas Bernhard ankommen wird, geht es hier erst einmal zurück ins Jahr 1913, nach Wien am Vorabend des Ersten Weltkriegs – und, literarisch betrachtet, in die Wiener Moderne, zu Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal, dessen Chandos-Brief Marie Rosa Tietjen in einer grandiosen Nummer performt.
In einer dramaturgisch vollendeten Salonparty lässt Gosselin das Personal verschiedener Texte aufeinandertreffen – von der „Komödie der Verführung“ über die „Traumnovelle“ bis zu „Fräulein Else“. Ärzte und Schauspielerinnen plaudern über Kunst und weitere Bedeutungsträger, Ehepaare schlittern über der gegenseitigen Offenbarung abgründiger erotischer Fantasien in die Krise, sexuelle und andere Neurosen werden – Freud lässt grüßen – wechselweise ausgelebt und unterdrückt.
Bis das Treiben dieser Dekadenz-Gesellschaft, die sich über zweieinhalb Stunden in einem wirklich hochgradig fesselnden Stillstand und auf schauspielerischem Höchstniveau um sich selbst dreht, von der lautstark einbrechenden Apokalypse beendet wird.
Der dritte Teil ist dann ein Bernhard-Solo von Rosa Lembeck – die dem österreichischen Autor als Murau-Wiedergängerin einen Tonfall abgewinnt, wie man ihn noch nie gehört hat: Was bei Bernhard als sarkastische Hass- und Verachtungssuada nach außen geschleudert wird, wird von Lembeck praktisch individuell durchlitten und psychisch invertiert – und reißt so tatsächlich völlig neue Deutungsräume auf in dem großen Bogen, den Gosselin an diesem Abend spannt.
Es ist ein Gegenwartskommentar, der sein Publikum mit verschiedenen historischen Folien – und auch Kulturtechniken – der „Auslöschung“ konfrontiert, vergangene und gegenwärtige dabei in eine spannungsreiche Beziehung setzt und auf den verschiedensten Ebenen zu inspirierender Entschlüsselungsarbeit einlädt: ein Volksbühnen-Saisonauftakt at its best!