Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (65): Feindliche Ankunft in Charkiw
11. September 2022
„Rache: Geschichte und Fantasie“ heißt die Ausstellung, die gerade im Jüdischen Museum Frankfurt läuft. Schon vor ein Paar Monaten habe ich davon von ihrem Ideengeber Max Czollek gehört. Und als ich die Einladung bekam, im September dort mein Buch vorzustellen, erinnerte ich mich ans Gespräch mit Max und dachte, es sei eine perfekte Gelegenheit, mir endlich die inzwischen gefeierte Ausstellung anzuschauen.
Auch der Journalist Klaus Walter, den ich seit Jahren kenne und schätze, kam mit – direkt aus dem Studio vom Hessischen Rundfunk, wo wir ein langes Gespräch für seine Sendung aufgenommen haben. Klaus hat meine Lesung moderiert, und hätte er mir alle Fragen gestellt, die er vorbereitet hat, würden wir bis in die Morgenstunden plaudern können. Eine davon überraschte mich. Bevor ich angefangen habe, aus meinen Kolumnen vorzulesen, fragte er, durch die Ausstellung inspiriert anscheinend, ob ich als Ukrainer gerade auch Rachefantasien hätte.
Ich musste kurz überlegen, sagte dann aber die Wahrheit: Zur Zeit setze ich mich mit den Rachefantasien der Anderen auseinander. Seit Wochen arbeite ich in meinem Studio an einem neuen Album „Ukrainian Songs Of Love and Hate“. Dabei bin ich nur für die Musik zuständig, die Texte kommen von den ukrainischen Autoren Lyuba Yakimchuk, Grigory Semenchuk und Irena Karpa.
Geschrieben wurden sie in den vergangenen Monaten, und der Anteil von Love ist deutlich geringer als der von Hate. Jeden Tag höre ich über Kopfhörer im Loop die Songs über fliegende Raketen, den Brand von Moskau oder den schwarzen Schwan, der ins Kreml-Fenster fliegen sollte, um russland zu zerstören.
Als ich im Zug nach Berlin saß, rief mich mein Cousin an, um zu erzählen, dass der Bezirk in Charkiw, wo seine Eltern bis zu ihrem Tod gelebt haben, in der Nacht beschossen wurde. Im ganzen Haus sind die Fenster zerbrochen, auch in den Nachbarhäusern.
Viele Freunde wohnen in diesem Kiez, aber sie anschreiben, um zu fragen, wie es ihnen geht, wollte ich nicht. Ich weiß, sowas kann nerven. Ich studierte die Nachrichten in den Telegram-Kanälen – nach wie vor ist es der schnellste Weg, die neuesten Informationen aus der Ukraine zu bekommen.
Leider hat’s gestimmt … Im Stadtzentrum gab es wieder „Pryl’oty“, ein Wort, mit man früher am Flughafen die ankommenden Flüge bezeichnet hat. Heute beschreiben die Ukrainer damit die russischen Beschüsse. Auf den Fotos sah ich auch den Unterhaltungskomplex Misto, den ich allerdings nur noch schwer erkennen konnte.
Sonst wurde auf der Bühne gestrippt
2014 haben wir dort mit RotFront und Serhij Zhadans Band Sobaky gespielt, für uns war es der erste (und bis jetzt der letzte) Auftritt in meiner Heimatstadt. Schon damals kam mir dieser pompöse Spielort unpassend vor. Ich weiß noch, wie ich mit unserer Veranstalterin telefoniert habe, um mögliche Alternativen zu finden, aber sie behauptete, unsere technischen Anforderungen seien für die andren Charkiwer Klubs zu kompliziert gewesen. Also mussten wir im Misto spielen, im Saal zwischen dem Restaurant und der Bowlingbahn.
Auf der Bühne gab es mehrere fest montierte Stangen. Dass dort normalerweise eine ganz andere Art der Unterhaltung geboten wurde, bestätigte sich, als meine Kollegen im Backstageraum Dutzende von Stripperkostümen entdeckten.
Meine Freunde, die zum Konzert gekommen waren, wirkten von dem Ambiente etwas geschockt und meinten, sie seien an diesem Ort noch nie gewesen. Später stieß ich im Netz ab und zu auf die Ankündigungen merkwürdiger Events im Misto, manchmal waren es Konzerte dubioser russischer Sänger*innen. Dass wir dort mal mit RotFront und Sobaky gespielt haben, ließ sich immer schwerer glauben.
Vielleicht erkenne ich den Laden auf den Fotos bei Telegram einfach nicht, weil die Zerstörung so brutal ist. Statt eines Unterhaltungszentrums im Las-Vegas-Style eine verkohlte, fensterlose Ruine.
Zur Startseite