Mit Hegel in Peking

Es sind längst nicht mehr die Spatzen, die es von den Dächern pfeifen. Es sind die Meinungshirsche, die im Blätterwald vom Niedergang des Westens und vom unaufhaltsamen Aufstieg Chinas röhren. Zwischen Alarmismus und Appellen erklingt die Leier in immer schrilleren Tönen, und hin und wieder mischt sich sogar ein ordentliches Stück liberaler Selbsthass in die Klage. Jede ruhigere Analyse des vermeintlich Offensichtlichen ist da von Vorteil. Moritz Rudolph, ein junger Politiktheoretiker aus Leipzig, trifft sie mit Hegel im Bunde.

[Moritz Rudolph: Der Weltgeist als Lachs. Matthes & Seitz, Berlin 2021. 128 Seiten, 12 €.]

Ausgehend vom ersten Satz im Orient-Kapitel der Berliner „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ hält er mit dem Denker fest: „Mit dem Reiche Chinas hat die Geschichte zu beginnen.“ Sie wird, und dazu zieht er den französischen Linkshegelianer Alexandre Kojève zu Rate, der mit dem Reich Nippon als transpazifischem Ziel des Weltgeists nur knapp danebenlag, dort auch enden. Denn in China materialisiert sich für Rudolph, was alle drei von Kojèves „endgeschichtlichen Ahnungen“ verbindet: „Kapitalismus (USA), Diktatur und Plan (Sowjetunion) und ökonomische Aufholjagd eines nichtwestlichen Landes (Japan)“.

Einmal um die Weltkugel

„Der Weltgeist als Lachs“, entstanden aus zwei Essays für den „Merkur“, formuliert das als zyklisches Phänomen. Denn es handelt sich um einen „dialektischen Lachs“, der „zum Sterben (und Laichen) an seinen Geburtsort zurückkehrt“. Er muss nicht einfach „stromaufwärts, sondern einmal rundherum schwimmen“.

Als geschichtsphilosophische Diagnose entfaltet das enormen Reiz, trägt aber ein großes Risiko. Nicht nur, dass jede Geschichtsphilosophie, die die inneren Bewegungsgesetze historischer Entwicklungen zu erkennen glaubt, eine gefährlich spekulative Disziplin ist. Man kann Hegel, ohne gleich die Rassismuskarte zu ziehen, auch nicht davon freisprechen, im Bemühen, reihum allen Weltkulturen gerecht zu werden, ein eurozentrisches Projekt betrieb. Berüchtigt sind seine Ausführungen über die Geschichtslosigkeit Afrikas.

Angesichts des Potpourris, das Moritz Rudolph anrichtet, sind das geringe Einwände. Sein Buch lebt von einer assoziativen Lebendigkeit, die zusammenführt, was nach strengen Maßstäben nicht zusammengefügt werden kann: Trumps Machtergreifung als Zerrbild maoistischer Autokratie und der Siegeszug von Künstlicher Intelligenz als Vorschein einer „weltumspannenden Zivilisationsbarbarei“; die Pekinger Bewältigung der Coronakrise und die Tianxia-Philosophie von Zhao Tingyang als Inbegriff eines chinesischen Universalismus, der den westlichen ablöst. So delirant es dabei mitunter zugeht, so anregend ist es durchweg.

Projektionsfläche China

Das entscheidende Defizit besteht vielmehr darin, dass Rudolphs Analyse einem weitgehend imaginären China gilt – einem Gegenstand der Geschichtsphilosophie, nicht einer Lebenswirklichkeit, die auf eigenen Traditionen beruht. Dass Rudolph als aktuellen Zeugen ausgerechnet den „Zeit“-Veteranen Theo Sommer aufruft, ist, gemessen an Hegel und Horkheimer, gleich zu Anfang ein Absturz aus der vorgesehenen Flughöhe. China bleibt eine Projektionsfläche, die er mit westlichen Kategorien bearbeitet, ohne den Versuch zu unternehmen, die Perspektive des Anderen einzunehmen.

Man muss dafür kein China-Experte sein. Der liberale britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, spezialisiert auf deutsche Geschichte, hat im „New Statesman“ (newstatesman.com) erst kürzlich ein eindringliches Plädoyer gehalten, in dem er das Reich der Mitte auch aus sich selbst heraus zu begreifen versucht: „Why there is no solution for our age of crisis without China“. Die Essenz seines Textes lässt sich auch im Gespräch mit Kaiser Kuo, dem Moderator von „Sinica“, dem weltweit führenden China-Podcast (supchina.com), nachhören.

Ungleich defätistischer machte sich im „New Statesman“ zuletzt der emeritierte Ideenhistoriker John Gray ans Werk. „The West isn’t dying – its ideas live on in China“ heißt der Essay, in dem er, nicht ohne Genugtuung, beschreibt, wie ein sich progressiv wähnender Hyperliberalismus im Westen vor die Hunde geht, während das illiberale Gedankengut, das in seinem Schatten gedieh und heute in Osteuropa Unterschlupf findet, in Peking (und Moskau) auf willige Adepten stößt.

Chinas Machiavelli

John Gray kommt nicht umhin, in diesem Zusammenhang auf die erstaunliche zweite Karriere des NS- Kronjuristen Carl Schmitt zu verweisen, dessen autokratische Vorstellungen Verfassungsrechtler wie Chen Duanhong von der Peking-Universität begierig rezipieren. Er nennt mit Han Feizi aber auch einen von Xi Jinping geschätzten Denker aus der (vorchristlichen) Zeit der Streitenden Reiche, den man, mit Mut zum schiefen Vergleich, einen asiatischen Machiavelli nennen könnte.

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Als Vertreter eines Legalismus, der Menschen äußere Grenzen zieht, wo die inneren Direktiven versagen, bildet er das Korrektiv zur konfuzianischen Gewissenserforschung. Die amerikanisch-chinesische Journalistin Zha Jianying hat Han Feizi auf „China Heritage“ (chinaheritage.net) einen buchlangen Essay gewidmet.

Moritz Rudolph bezieht in diesem politisch diversen Konzert der Stimmen nicht wirklich Stellung. Wie sollte er auch: Wo der Weltgeist waltet, vollziehen sich Synthesen wie von selbst – und zwar autokratisch von oben: „Erst jetzt, da China an der Spitze des Weltsystems angekommen ist, kann es tun, was der Mao-Marxismus einst von unten wollte: die bürgerliche Gesellschaft aufheben.“ Es hört sich an, als sei dagegen kein Kraut gewachsen.