Ukrainisches Kriegstagebuch (175): Pünklich in Lwiw, schlaflos in Irpin

15.10.2023
Obwohl ich öfter gehört habe, dass der Zug nach Kiew in Przemysl immer geduldig auf alle Passagiere wartet, bin ich wegen der einstündigen Verspätung meines Zuges aus Berlin ziemlich besorgt. Dennoch sieht es ganz gut aus, und die Wahrscheinlichkeit, dass ich am späten Abend verzweifelt nach einer Übernachtungsmöglichkeit in Przemysl suchen muss, statt weiter nach Lwiw zu fahren, ist relativ gering.

Die Warteschlange vor der Passkontrolle ist lang, bewegt sich aber zügig, und es ist noch recht warm. Die Beamtin bemerkt die Gitarre auf meinem Rücken und fragt nach dem Zweck meiner Reise. Ich erkläre, dass ich Musiker bin und auf Tour gehe.

Im Dezember 2022 stand ich exakt an diesem Schalter und reichte meinen Reisepass einer ihrer Kolleginnen. Es war mein erster Ausflug in die Heimatstadt seit dem Beginn des Großen Krieges. Zu jener Zeit wurde Charkiw noch regelmäßig beschossen, und im ganzen Land gab es Probleme mit der Stromversorgung.

Trotz dieser Umstände fand das Konzert, das wir gemeinsam mit Serhij Zhadan und dem Team des Literaturmuseums geplant hatten, statt. An diesem Abend präsentierten wir vor dem Charkiwer Publikum die ersten Ergebnisse unserer Arbeit mit den Texten von Hryhorij Skoworoda. Jetzt, zehn Monate später, ist unser Album endlich fertiggestellt, und wir freuen uns darauf, es gemeinsam mit einer großen Band auf den Bühnen von Charkiw, Odessa und Lwiw vorzustellen.

Im Auto 1000 Kilometer nach Charkiw

Ich bin erfolgreich umgestiegen und erreiche Lwiw pünktlich um 2:21 Uhr. Hier spürt man sofort den winterlichen Hauch. Während ich meinen Koffer etwa einen Kilometer lang durch die menschenleeren Straßen zum Hotel Edem schiebe, erfreuen mich die strahlenden Laternen, und mir kommen sofort die Stromausfälle des letzten Jahres in den Sinn, die eine recht düstere Stimmung erzeugten.

Am frühen Nachmittag holt mich Lida Kalashnikova vom Charkiwer Literaturmuseum ab. 15 Minuten später ist ihr Jeep bis zum Rand beladen – neben meinem Koffer und der Gitarre ist auch die Videotechnik ihres Mannes Denis an Bord, der seit Monaten den Entstehungsprozess unseres Albums mit seiner Kamera dokumentiert. Zu dritt machen wir uns nun auf den 1000 Kilometer langen Trip nach Charkiw. Während der Fahrt hören wir Musik und reden über die Ukraine, den Krieg und natürlich auch über die jüngsten Ereignisse in Israel.

Mir fällt auf, dass alle Ukrainer*innen, mit denen ich seit dem letzten Samstag Kontakt hatte, mich nach der Lage in Israel gefragt und sich nach dem Wohlergehen meiner Freunde und Familie dort erkundigt haben. Sie wissen aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, wenn deine Städte bombardiert werden und bewaffnete Eindringlinge plötzlich vor deiner Haustür stehen.

Das Interesse meiner deutschen Freunde für die Situation in Israel scheint sich dagegen in Grenzen zu halten. Es ist jedoch auch möglich, dass sie mich einfach nicht erreicht haben, da ich für die nächsten zwei Wochen eine ukrainische SIM-Karte in meinem Handy verwende.

Wir verbringen die Nacht bei Lidas Freunden in Irpin. Denis und Lida zeigen mir die beschädigten Häuser dieses einst idyllischen Kiewer Vororts zu beiden Seiten der Straße, wo im Februar und März 2022 heftige Kämpfe stattfanden. Es ist bereits dunkel, daher kann ich nicht alles erkennen.

In der Nacht finde ich keine Ruhe, und ein Gedanke lässt mich nicht los – vergangenes Jahr musste sich meine Familie im Keller ihres Hochhauses von den russischen Raketen verstecken – ihre einzige Schuld bestand darin, dass sie Ukrainer sind. Und heute mache ich mir große Sorgen um meine Verwandten in Israel, weil Hamas ihre Städte bombardiert und auf ihre tanzenden Kinder schießt. Wie, wie ist es nur möglich?!