Ukrainisches Kriegstagebuch (193): Zwei lange Jahre

24.2.24

„Letztes Mal, als ich hier war, haben mein Sohn und ich uns Batman reingezogen“, sagte ich Vika. „Und ich Star Wars“, erwiderte sie, und wir beide mussten lachen. Am Montagnachmittag begegneten wir uns zufällig im Foyer des Colosseum-Kinos in der Schönhauser Allee, kurz nachdem ich mich im Kassenbereich angemeldet hatte. 

An diesen Tag verwandelte sich das Kino in meinem Kiez in das Café Kyiv – ein Festival mit einem bunten Programm von 10 bis 23 Uhr, das die verschiedenen Räume des Colosseum mit Paneldiskussionen, Vorträgen, Workshops und Filmvorführungen belebte.

Vika entschuldigte sich eiligst – die Veranstaltung, an der sie teilnehmen musste, sollte in wenigen Minuten beginnen. „Sorry, ich muss schnell nach Mariupol“, sagte sie und verschwand so flink, wie sie aufgetaucht war – und ließ mich mit der Frage zurück, was genau sie meinte.

Ukrainische Sounds, ukrainische Spezialitäten

Doch das mit Mariupol klärte sich auf, sobald mein Internetempfang stark genug war, um das per QR-Code abgerufene Programm auf meinem Handy zu lesen. Gemäß dem Festivalkonzept war das Kinogelände in verschiedene Bereiche unterteilt, die nach ukrainischen Städten benannt wurden. Obwohl ich mich im Cafe Kyiv befand, erinnerte die schwache Internetverbindung eher an das Flair des Café Berlin. 

Wenn man nicht gerade eine der zahlreichen Veranstaltungen besuchte, konnte man im Erdgeschoss zu Musik eines DJs aus seiner eindrucksvollen Vinylsammlung moderner ukrainischer Sounds lauschen, ukrainische Spezialitäten probieren, Kleidung von ukrainischen Modedesignern und das Werk eines ukrainischen Künstlers erwerben oder sich eine VR-Präsentation der zerstörten ukrainischen Städte ansehen.

Die Schlange am Kaffeestand war mir zu lang, daher beschloss ich, das Colosseum kurz zu verlassen und meinen Kaffee draußen zu genießen. Dort fiel mir auf, dass fast jedes Geschäft in der Gleimstraße von Menschen mit Café Kyiv-Ausweisen bevölkert war. Mein Kiez hatte sich an diesem Montag rasch ukrainisiert.

Ursula von der Leyen war auch zu Besuch

Um wieder hineinzukommen, musste man sich vor dem Eingang anstellen. Beim Eintreten bemerkte ich, wie links von mir Ursula von der Leyen durch die Tür nach draußen ging. Auf dem Weg zu „Odesa“ traf ich Uliana auf der Treppe. Wir hatten uns seit Monaten nicht mehr gesehen, vermutlich seit ihrem Umzug in die eigene Wohnung im letzten Sommer, die sie nach monatelanger Suche endlich am Tierpark gefunden hatte.

Wir kennen uns aus Charkiw, wohin sie nach dem Beginn des Krieges in ihrer Heimat Donbass gezogen war. Uliana schrieb Gedichte, zuerst in ihrer Muttersprache russisch, dann auf Ukrainisch und arbeitete als Grafikdesignerin. Im März 2022 verließ sie die Stadt nach zwei Wochen im Keller, wo sie sich mit Freunden vor russischen Raketen versteckte, und kam nach Berlin. Eine Weile wohnte sie bei mir um die Ecke in der Wohnung eines Journalisten, der nach Kiew gezogen war. 

Uliana spricht Deutsch, kein Wunder

Ihr gehe es gut, sagte Uliana und lächelte. Nur aus dem Film, den sie sich ansehen wollte, musste sie kurz raus, weil es für sie zu viel wurde. Als uns Andreas ansprach, der extra aus Frankfurt zum Café Kyiv angereist war, wollte ich ihn bitten, wegen Uliana ins Englische zu wechseln, doch sie überraschte mich, indem sie auf Deutsch antwortete. Aber warum wunderte ich mich eigentlich? Schließlich wohnt sie seit fast zwei Jahren in Berlin.

Ja, zwei Jahre ist es schon her, dachte ich heute auf dem Weg ins Haus der Kulturen der Welt, wo ich mit Mariana Sadovska beim Festival Utopie Osteuropa auftreten sollte. Ohne den 24. Februar 2022 wäre diese heutige Veranstaltung und ihre Stimmung sicherlich ganz anders gewesen. Es hätte höchstwahrscheinlich weder das Café Kyiv im Kino Colosseum gegeben noch wären Uliana und Tausende ihrer Landsleute hier gelandet.

Hätte russland den Krieg gegen die Ukraine vor zehn Jahren nicht begonnen, hätte es heute keine Solidaritätsdemonstration am Brandenburger Tor gegeben. Ich schaffte es kurz vor dem Soundcheck dorthin, sah Dutzende von Freund*innen, darunter auch Ania aus Tschernihiw und ihre neunjährige Tochter, die mit Tränen in den Augen die ukrainische Hymne sangen. Anias Mann ist letztes Jahr bei Bakhmut gefallen. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass dies alles nicht geschehen wäre!