Dirigent Bernard Haitink mit 92 Jahren gestorben
Es war Patricia Haitink, die im Sommer 2019 ein Machtwort sprach, und ihren Mann dazu bewegte, mit 90 Jahren die Konzerttätigkeit zu beenden, nachdem er in den Monaten zuvor mehrfach gestürzt war. 63 Jahre lange hatte Bernhard Haitink da bereits die bedeutendsten Orchester der Welt dirigiert, seit er, der studierte Geiger, 1956 todesmutig beim Amsterdamer Concertgebouworkest für den erkrankten Pultstar Carlo Maria Giulini eingesprungen war.
Nur drei Jahre später wurde er zum musikalischen Leiter des Concertgebouw berufen, zunächst in einer Doppelspitze mit Eugen Jochum, ab 1964 dann als alleiniger Chefdirigent. Im selben Jahr debütiert er bei den Berliner Philharmonikern. Dass die Kommunikation zwischen Haitink und dem Orchester sofort reibungslos klappte, auf dem Podium wie auch hinter den Kulissen, lag sicher auch am guten Deutsch des Niederländers. „In der Schule war ich eigentlich ein hoffnungsloser Fall“, erinnerte er sich später. „Das einzige Fach, in dem ich mich anstrengte, war Deutsch. Weil ich einen tollen Lehrer hatte.“ Als Übungslektüre nahm er sich in den Ferien Thomas Manns „Doktor Faustus“ vor.
Sein Wissen hat er an mehrere Generationen weitergegeben
Als 1989 in Berlin ein Nachfolger für Herbert von Karajan gesucht wurde, gehörte Bernard Haitink selbstverständlich zum Kreis der Favoriten. Dass am Ende Claudio Abbado die Wahl gewann, verübelte er den Philharmonikern nicht, anders als mancher Mitbewerber. Und so konnte diese einmalige musikalische Freundschaft ungebrochen weiterwachsen. Mehr als 200 Mal hat er mit den Musikerinnen und Musikern gearbeitet und konnte sein Wissen, seinen enormen Erfahrungsschatz so mit mehreren Philharmoniker-Generationen teilen.
Simon Rattle, der den Niederländer schon seit Teenagertagen bewunderte, hat über ihn Haitink gesagt: “Wenn Bernard Haitink mal wieder bei den Philharmonikern zu Gast war, spielt das Orchester noch in der Woche darauf entspannter, räumlicher und ausdrucksstärker.”
Weil er von Anbeginn mit Spitzenorchestern arbeiten konnte, spezialisierte Haitink sich früh auf die ganz großen symphonischen Werke, auf Gustav Mahler, Anton Bruckner, Richard Wagner und Richard Strauss. Und er setzt sich für Dmitri Schostakowitsch ein. Amsterdam blieb 27 Jahren lang das Zentrum seiner künstlerischen Arbeit, ab 1967 war er zudem auch Chefdirigent beim London Philharmonic Orchestra, leitet von ab 1978 das Opernfestival im südenglischen Glyndebourne und ab 1987 das Londoner Royal Opera House Covent Garden. Und in reifem Alter wurde er dann sogar noch zwei Mal zum Einspringer, 2002 bei der Staatskapelle Dresden nach dem Tod von Giuseppe Sinopoli, 2006 beim Chicago Symphony Orchestra.
Ihm ging es einzig um die Musik
Was Haitink als Künstler ausmachte, hat sein Dirigentenkollege Christian Thielemann so zusammengefasst: „Keine Mätzchen am Pult, keine Show, keine Posen, keine großen Bewegungen. Nur noch um die reine Musik soll sich alles drehen, um ihre handwerklich versierte Herstellung, nicht um den Interpreten.“
Bernard Haitink hat sich stets als Diener der Partitur verstanden – und sich dabei der Komplizenschaft der Musikerinnen und Musikern versichert. Die Orchester wurden bei ihm zu Klangkörpern im wahrsten Wortsinn, zu Organismen, bei denen sich alle Teile aufeinander beziehen.
Die Intensität, die in diesen kostbaren Momenten entsteht, wird möglich, weil Haitink seinen Mitspielern Raum zur Entfaltung gab. Indem er sich auf die Koordinierung von weiten gedanklichen Bögen und die Staffelung der Stimmen fokussierte, bekam er einen Klang von berückender Schönheit, entfalteten sich die Orchesterfarben auf die schönste, üppigste Art. Sein Credo bei den Proben lautete: „Ich versuche herauszubekommen, wo ich nichts machen muss, weil es die Musiker nur stört, – und wo sie ein bisschen Hilfe brauchen.“ Im Alter von 92 Jahren ist Bernhard Haitink, der stille Star unter den Weltklasse-Maestri, jetzt in London gestorben.