„The Dead Don’t Hurt“ im Kino: Zuhause im Land der Heimatlosen
Die historische Perspektive des Western lässt sich schon an der Sprache erkennen. In der klassischen Phase, als das Genre noch eine homogene Idee vom Gründungsmythos darstellte, war der breit gekaute drawl der Cowboys, in der distinguierten Gentleman-Variante oder aus dem Mund der einfachen Ranch-Arbeiter, die dominante Redeweise im „wilden“ Westen der amerikanischen Populärkultur.
Eingeführt von den Siedlern der britischen Inseln im 17. Jahrhundert, war es sozusagen die Sprache der Kolonisatoren. Mexikanisch oder die zahlreichen Sprachen der amerikanischen Ureinwohner gingen in Hollywood lange allenfalls als mundartliche Stilmittel durch.
In der revisionistischen Spielart des Western, die nicht nur ein weniger affirmatives Narrativ der Besiedlung Amerikas etablierte, sondern auch den amerikanischen Gründungsmythos als Einwanderernation abzubilden versuchte, wurde das Genre immer vielsprachiger, dialektischer. Je mehr Sprachen und Akzente zu hören waren – europäische, aber auch die der chinesischen Einwanderer an der Westküste –, desto näher kam der Western dem Ideal, welches in der Inschrift im Sockel der Freiheitsstatue verewigt worden war: „Schickt sie mir, die Heimatlosen, die vom Sturm Geplagten.“
Viggo Mortensen will mit seiner zweiten Regiearbeit „The Dead Don’t Hurt“ – nach dem Vater-Sohn-Drama „Falling“ – das Genre nicht neu erfinden, aber die Motive des klassischen Western dienen ihm als vager Leitfaden, um die Zentralperspektive zu verschieben.
Das Experiment Amerika
Die Gewalt ist das hervorstechende Merkmal im Amerika-Bild des Regisseurs und Hauptdarstellers, der den Fokus auf die Immigranten und Frauen in diesem zivilisatorischen Groß-Experiment verlagert. Es ist die Zeit kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs, der die Neubürger gleich wieder vor die Wahl stellte, die eigenen Überzeugungen zu prüfen: humanistische Werte oder Sklaverei.
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Holger Olsen (Mortensen) hatte bereits in der dänischen Armee gedient, bevor er in die Neue Welt auswanderte. In San Francisco lernt er die unerschrockene Franko-Kanadierin Vivienne (Vicky Krieps) kennen, die sich auf dem Markt den Avancen eines neureichen Bürgersöhnchens resolut entzieht. Holger beobachtet dieses Intermezzo amüsiert vom Rande aus: Als sich ihre Blicke treffen, erkennen sich zwei radikal freiheitsliebende Menschen, für die dieses Amerika wie geschaffen zu sein scheint.
Ihre Liebesgeschichte, die genauso die Geschichte einer Nation ist, die von der Sehnsucht nach einer Heimat geformt wurde, erzählt Mortensen von ihrem Ende her – in Rückblenden. Leichen stapeln sich gleich am Anfang von „The Dead don’t Hurt“, dessen Titel doppelt zu verstehen ist.
Die Toten spüren keinen Schmerz, und sie können keine Schmerzen mehr verüben. Holger nimmt Vivienne mit zurück in das Städtchen Elk Flats in Nevada, wo er lebt. Hier herrscht der Großgrundbesitzer Jeffress (Garret Dillahunt), dessen psychopathischer Sohn Weston (Solly McLeod) die Bewohner terrorisiert. Der korrupte Bürgermeister (Danny Huston) schaut unbeteiligt zu.
„The Dead Don’t Hurt“ handelt auch von dem Preis, den dieses amerikanische Projekt dem Einzelnen abverlangt. Vivienne starrt entgeistert die Bruchbude inmitten der Einöde an, die Holger ihr als ihr neues Zuhause präsentiert. Dieses Land muss noch kultiviert werden.
Darum bepflanzt sie den Garten, während er sich aus moralischer Verpflichtung der Yankee-Armee des Nordens anschließt, um gegen die rassistischen Südstaaten zu kämpfen. (Im örtlichen Saloon prügelt Weston den mexikanischen Klavierspieler windelweich, als dieser die Hymne der „Union“ anstimmt.) Vivienne bleibt allein auf der Farm zurück, eine kompromisslos unabhängige Frau; schutz-, aber nicht hilflos ausgesetzt dem Regime der Männer. Doch gegen die Gewalt kann auch sie nichts ausrichten.
Eine Würdigung von Vicky Krieps
Die klassischen Western-Motive unterspielt „The Dead Don’t Hurt“ mit einer gemächlichen, durch die nicht-chronologische Erzählweise fast antiklimaktischen Inszenierung. Die Kamera des Dänen Marcel Zyskind arbeitet mit Halbtotalen und Close-ups auf seine beiden Stars, nur selten schwelgt sie in majestätischen Landschaftstotalen wie bei den Klassikern Ford und Hawks. Der Regisseur Mortensen respektiert die Ikonografie des Western, ohne ihr über Gebühr Aufmerksamkeit zu schenken. Die Pionierleistung liegt nicht in der Zivilisierung der Landschaft, sondern in den Idealen, für die die Figuren einstehen.
Bei einem Kevin Costner würden da schnell die Eitelkeiten durchschlagen; dessen Epos „Horizon“, mit sich selbst in der Hauptrolle, startet Ende des Monats in den Kinos. Mortensen hingegen inszeniert seinen wortkargen Veteranen nicht als Chiffre, die das „Projekt Amerika“ aus der Sicht eines Immigranten erklären soll – oder als einen Revolverhelden, der das Land befriedet. Für den unspektakulären Showdown muss Holger nicht mal zur Waffe greifen.
Amerika ist ein Gemeinschaftsprojekt, und mit Vivienne an seiner Seite hat er eine kongeniale Partnerin gefunden. Auf unnachahmliche Weise verkörpert Vicky Krieps diese Mischung aus Resolutheit und Bodenständigkeit. Eine Liebeserklärung an Amerika ist „The Dead Don’t Hurt“ sicher nicht, dafür aber die Würdigung einer großartigen Schauspielerin.