Marx und Macht

Konzentriert und akkurat hantieren zwei Männer mit ihren Werkzeugen, umsichtig helfen sie einander. Zwei andere sitzen an Tischen, grübeln womöglich nach über das Plansoll des volkseigenen Betriebes. „Arbeiter“ hat Willi Sitte sein Triptychon von 1960 betitelt. 30 Jahre später malt er für sein Bild „Erdgeister“ eine Arbeitergruppe – sie stecken mit den Köpfen im Schlamm. Einer wirft sich, nackt und bloß, im Vordergrund in einen unsichtbaren Höllenschlund. „Das ist mein letztes Bild zum Thema Arbeiterklasse. Dazu mache ich nichts mehr. Die Menschen haben mich bitter enttäuscht“, kommentierte Sitte das wuchtige Werk. Sein Glaube an „die revolutionäre Kraft der Arbeiterklasse“ war dahin. Des Künstlers Lebenswerk: ein Trümmerhaufen.

Meister und Werk. Der Fotograf Jürgen Domes porträtierte den Künstler in seinem Atelier.Foto: Kulturstiftung Sachsen-Anhalt © Jürgen Domes

Willi Sitte (1921–2013) wäre in diesem Februar 100 Jahre alt geworden. Als verspätetes Geburtstagsgeschenk widmet ihm das Kunstmuseum Moritzburg in Halle an der Saale jetzt eine Retrospektive. Die Gabe hat es in sich. Denn die Schau unter dem Titel „Sittes Welt“ präsentiert den Künstler nicht nur, sie seziert ihn. Wie wurde er vom aufmüpfigen Künstler zum mächtigen Kulturfunktionär? Lohnt es überhaupt, sich mit den Arbeiten eines „Staatskünstlers“ auseinanderzusetzen? In jedem Fall. Mehr als 250 Bilder sind in Halle, wo Sitte den größten Teil seines Lebens verbrachte, ausgestellt, von ersten Werken um 1940 bis hin zu jenen aus den frühen 2000er Jahren.
Doch die Ausstellung zeigt nicht nur Sittes offenkundiges Maltalent und seine kraftvolle Kunst, sie kommt dem Künstler selbst – bisweilen erschreckend – nah.
Sittes Leben glich einer Achterbahnfahrt, bei der er freilich die Kurven selbst bestimmte. Entsprechend spannend liest sich die rund 250 Seiten starke „biographische Recherche“, die die Kuratoren Thomas Bauer-Friedrich und Paul Kaiser zur Ausstellung herausgegeben haben. Dazu kommt noch ein schwergewichtiger Katalog mit mehr als 500 Seiten. In Halle, so scheint es, war man bemüht, möglichst viele Rätsel des umstrittenen Malers zu entschlüsseln – und war erfolgreich.
Willi Sittes Zeichentalent sei früh aufgefallen, heißt es. Das Kind einer böhmischen Bauernfamilie besuchte eine private Kunstschule und fertigte währenddessen bereits Illustrationen für die „Reichenberger Zeitung“ an. 1940 wurde er für die Hermann-Göring-Meisterschule für Malerei in Kronenburg in der Eifel empfohlen. Sitte gefiel es dort nicht, er war auch nicht in der Hitlerjugend. Er sei, so sagte er, „irgendwie durch die Maschen gefallen“. Zur Wehrmacht abkommandiert, blieb er zunächst in Küstrin, malte dort ein Wandbild für die Kaserne und verschönerte das Offizierskasino. Im Laufe des Krieges war er zunächst an der Ostfront, später wird seine Einheit in die Lombardei verlegt. Dort, so hat Sitte es nach Kriegsende immer behauptet, desertierte er und schloss sich italienischen Partisanen an, um mit ihnen gegen die Deutschen zu kämpfen. Wie es in Wahrheit war – Sitte geriet wohl in Gefangenschaft – haben Thomas Bauer-Friedrich und Paul Kaiser im Detail recherchiert.

Die DDR ehrte ihn als “Widerstandskämpfer”

1947, in der DDR, sah man keinen Anlass, an der Erzählung des Künstlers zu zweifeln. Er wurde als „Widerstandskämpfer“ geführt – und die wurden in dem jungen sozialistischen Staat nicht nur mit Auszeichnungen gewürdigt. Mit Erreichen des 60. Lebensjahrs bekam Sitte etwa eine „Ehrenpension“ von beachtlichen 1350 Mark.

Nie wieder Krieg. Sittes “Memento Stalingrad” entstand 1961.Foto: Ilona Ripke © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Mit seiner Kunst war Willi Sitte indes bei den Funktionären der 1940er/1950er Jahre angeeckt. Ihm gefielen Werke von Pablo Picasso, Fernand Léger oder Max Beckmann – und ließ sich von ihnen inspirieren. In Stil und Ausführung rückte Sitte nah heran an die klassische Moderne. In der DDR hielt man davon nichts. 1951 sagte Walter Ulbricht: „Wir wollen in unseren Kunstschulen keine abstrakten Bilder mehr sehen.“ Willi Sitte kämpft nicht dafür – er fügt sich. 1963 veröffentlichte er eine „Selbstkritik“: „Ich bekenne mich voll und ganz zu den Beschlüssen meiner Partei; denn nur von einem solchen parteilichen Standpunkt aus kann es möglich sein, über noch offene, noch nicht geklärte Probleme zu streiten, aber immer in dem Sinne, die Kunst in der DDR stärken zu helfen. Für die Erfüllung dieser Aufgabe will ich meine ganze Kraft aufwenden, die volle Entfaltung und endgültige Durchsetzung des sozialistischen Realismus in der Kunst mit meinen Möglichkeiten sichern zu helfen.“

Vom Krieg gezeichnet. Sittes Werk “Die Überlebenden” entstand 1963.Foto: Albertinum | GNM, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Elke Estel/Hans-Peter Klut © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Hatte er 1953 Karl Marx noch nahbar als vorlesenden Intellektuellen gemalt, so zeigt er ihn 1978/79 in einem mehrteiligen Wandgemälde überlebensgroß als Heroen. Darüber hinaus werden dort derbe Nacktheiten – fast ein Markenzeichen von Sitte – präsentiert und Menschen mit gerecktem Kinn, die rechte Faust oft geballt.

Er reiste oft ins “kapitalistische Ausland”

Seine Wende zum Staatsmaler ist vollzogen. 1973 bekräftigt er: „Ich bekenne mich zum sozialistischen Realismus, weil sich nur mit seiner Hilfe Einsichten in die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Heute und Morgen (…) verschmelzen lassen kann.“ Ein Jahr später wird er Präsident des Vereins der Bildenden Künstler der DDR, später auch Mitglied des ZK der SED. Sitte war gleichsam ein gemachter Mann, der sich wie selbstverständlich Vorteile nahm. Er reiste häufig ins kapitalistische Ausland, stellte aus, 1977 zum Beispiel im Hamburger Kunstverein und auf der documenta. Von einem Schweizer Zahnarzt ließ er sich das Gebiss richten und bezahlte diese Arbeit, über fünf Ecken und Beziehungen, mit Meissener Porzellan. Seiner Frau vermittelte er einen schwer zu bekommenden Wartburg, sein eigenes Dienstfahrzeug war ein Volvo.

Nach der Wende leugnete er Privilegien

Nach der Wende wollte er von all dem nichts wissen. 1990 schrieb er: „Ich war also dicht dran und habe das für mich nie genutzt, dieses Privileg, mit Leuten, die das Sagen hatten, die Macht ausgeübt haben.“ Er hat sich seine eigene Welt geschaffen. Und was ist nun mit seiner Kunst? „Das Schlimmste, was einem Œuvre geschehen kann, ist dessen Ignoriertwerden und wissenschaftliche Quasi-Nichtexistenz“, schreibt Thomas Bauer-Friedrich, Direktor des Kunstmuseums Moritzburg. Nachdem eine geplante Jubiläumsausstellung 2001 im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg kurzfristig verschoben worden war, untersagte er, dass seine Werke im Westen Deutschlands überhaupt gezeigt wurden. In Merseburg wurde 2006 die Willi-Sitte-Galerie eröffnet, das war’s.
In Halle ist der Künstler nun umfassend zu besichtigen. Es ist eine große Chance. „Denn kaum einer hat heute noch eine Vorstellung von Sittes Welt in toto, sondern stets ist es nur ein Teil. der noch im Bewusstsein verankert ist“, sagt Bauer-Friedrich.

Sittes Welt. Willi Sitte – Die Retrospektive, Museum Moritzburg, Halle. Bis 9.1.2022